Die Abenteuer deiner Kunst

Ein Tagtraum des Dichters Wolf Wondratschek über ein Leben als Vorleser bei einer blinden russischen Großfürstin, hervorgegangen aus einem Gespräch im Jahr 2000.

Als Junge verbrachte ich viele Nachmittage nicht auf der Straße, sondern im Keller der elterlichen Wohnung, saß da alleine, auf Bergen von Kartoffeln, die dort gelagert waren und rezitierte Gedichte. Das machte mich glücklich, Poesie und ein Ort, wo mich niemand hörte und störte.

Kurz vor dem Abitur wurden die Schüler nach ihren Berufswünschen gefragt. Einige wollten Architekt werden, andere Arzt oder Jurist. Mir dagegen erschien ein Traumbild viel nahe liegender zu sein als irgend ein realistischer Vorschlag. Als ich an der Reihe war, sagte ich, zum Erstaunen des Lehrers und zum Amüsement meiner Mitschüler, dass mein Berufswunsch folgender sei: Ob mit oder ohne Abitur – ich möchte Vorleser werden. Vorleser bei einer blinden russischen Großfürstin.

Genau so hatte ich das damals formuliert, und natürlich hat sich dieser Wunsch nicht im wörtlichen Sinne erfüllt. Doch ich bin meinem Traum treu geblieben. Ich übe ihn aus, bis heute, denn er enthält alle Ingredienzien, die mir etwas bedeuten. Insofern hat sich die Wahrheit dieses Traums über meine Zukunft gelegt. Er ist zur Folie meines Lebens als Schriftsteller geworden.

Mir gefällt die Vorstellung zu verschwinden. Ich möchte ein Niemand sein, mit einem Reichtum an Ruhe und Zeit. Und wenn es möglich ist, will ich nicht mit Geld in Berührung kommen. Ich halte Geld für das größte Übel. In meinem Traum kommt Geld nicht vor.

Die russische Großfürstin bezahlt mich in Naturalien. Ich darf im Westflügel ihrer Villa wohnen. Es wird für mich gekocht. Ich habe Zugang zu den großfürstlichen Kellereien. Auch alle anderen Wünsche werden erfüllt, so weit sie bescheiden sind. Etwa Zigaretten.

Der Traum handelt von einem Tauschgeschäft. Meine Gegenleistung besteht darin, dass die Fürstin mich, wann immer sie es wünscht, zu sich rufen darf und ich ihr vorlese. Sie sitzt in ihrem Sessel, nimmt Tee oder Schokolade zu sich, und lässt sich von mir in das unendliche Reich der Weltliteratur entführen. Ich lese ihr Proust vor, Shakespeare, Dantes »Göttliche Komödie« oder die Bibel. Ich lese für sie Joyce, Virginia Woolf, Joseph Conrad, Lion Feuchtwanger, Nabokov – Schriftsteller, die mir ohnehin wichtig sind. Nach drei oder vier Stunden wird sie langsam müde und schläft ein, und meine tägliche Pflicht ist getan. Ich empfinde es als wohltuend, dass die Fürstin blind ist, und ich unsichtbar für sie bin. Sie kennt nur meine Stimme. Sie schätzt meine Stimme, und es gibt keine Vorschriften, wie ich auszusehen habe.

Dieser Job, der darin besteht, einer älteren Dame vergnügliche Stunden zu bereiten, ist aber noch nicht alles. Im Zentrum meines Traums steht die Frage: Was tue ich mit der restlichen Zeit – wenn ich nicht lese, esse, schlafe, im Garten spazieren gehe oder Musik höre? Die Antwort ist einfach, und so habe ich ja auch immer gelebt: ich schreibe. Ich habe das große Privileg, mich meiner Arbeit zu widmen, und ich bin nicht einmal darauf angewiesen zu publizieren. Das ist der entscheidende Vorteil: Man gibt sich ganz einer Sache hin und ist befreit von der Überlegung, wie man das zu Geld machen kann. Ich muss keinen Lärm produzieren, um Aufmerksamkeit zu erregen; ich muss weder Lügen erzählen noch jemand bestechen, um vorwärts zu kommen. Das ist ein idealer Zustand, also wahrhaftig ein Traum. Und da ich nichts veröffentlichen muss, um leben zu können, wäre – ähnlich einer Idee von Flaubert – mein Debüt am Ende meines Lebens zugleich meine Gesamtausgabe. Zwei, drei, vier Bücher, ich hätte damit alles gesagt, was es zu sagen gäbe.

Ein weiterer Vorteil meines Traums besteht darin, möglichst wenig mit den Anforderungen der Gegenwart zu tun haben zu müssen. Die Gegenwart soll mich gefälligst in Ruhe lassen. Die hat sich nicht einzumischen in mein Leben. Ich brauche zum Beispiel die Kritiker nicht und brauche kein Feuilleton und auch keinen Austausch mit anderen Schriftstellern. Ich könnte mich ja mit unserem Gärtner unterhalten oder einem Dienstmädchen.

Ich stelle mir vor, eines der Dienstmädchen hieße Nora. Sie ist keine literarisch oder intellektuell ambitionierte Person, die sich in höhere Regionen verirrt. Nora ist von einer tieferen Weisheit geprägt; von der Weisheit, nur die zu sein, die sie ist. Im übrigen würde ich ohnehin den Austausch von Gefühlen und Körpersäften dem Austausch intellektueller Ideen vorziehen, und auch in diesem Zusammenhang wäre es ein Vorteil, dass meine Chefin blind ist. Es wäre nicht einmal schlecht, wenn sie auch noch zu Schwerhörigkeit neigen würde.

Die Qualität meines zugegebenermaßen sehr exklusiven Traums basiert auch darauf, dass sich unter seinem Federkleid zahllose kleinere Träume verstecken – je nachdem, wie man sich die Kulisse ausmalt. Man soll ja nicht kleinlich träumen. Man soll schon ins Offene hinein träumen. Es erscheint mir allerdings sehr wichtig, dass dieses erträumte Leben keineswegs ein paradiesisches ist, eine risikolose Existenz. Schreiben ist harte Arbeit. Die Großfürstin ist eine ältere Dame, die in absehbarer Zeit sterben oder mir aus einer Laune heraus die Stellung kündigen könnte. Oder, sie kann plötzlich wieder sehen und braucht meine Dienste nicht mehr. Ich will meine nahezu perfekten Arbeitsbedingungen nicht bis in alle Ewigkeit verteidigen.

Vielmehr ist dieser Traum ein Bild vom radikalen Leben eines Schriftstellers, der zurückgezogen, aber in komfortablem Ambiente lebt, und darüber hinaus sogar gezwungen ist, sich mit Literatur zu beschäftigen. Ich denke, manchmal sind Anteile von Zwang hilfreich und notwendig, um ins Wesentliche vorzudringen. Es ist so, als hätte man einen Coach in seiner Ecke, der einem sagt: müde? Du hast nicht müde zu sein! Du boxt noch fünf Runden, und dann kannst du müde sein.

Und das gilt nicht nur für das Boxen, sondern auch für das Schreiben. Man muss trainieren – man muss lesen und schreiben. Naiv wäre es zu glauben, man müsse selbst tolle Geschichten erleben und könne sie dann einfach aufschreiben. Literatur kommt nicht aus dem Leben. Literatur entsteht aus Literatur. Finde also erst mal heraus, was Schreiben ist! Finde die Abenteuer deiner Kunst heraus!
Denn man erlebt ohnehin unentwegt etwas. Wir erleben viel zu viel. Schon ein Eremit hat unendlich viel zu tun, seine Erlebnisse zu verarbeiten. Und man denkt: Da passiert nichts, aber es passiert sehr viel.

Ich behaupte, dass in der Stille eines Zimmers mehr passieren kann als in einer Bar in New York, ob mit oder ohne DJs. Aber man braucht natürlich lange – in meinem Fall 57 Jahre –, um das herauszufinden. Und noch immer hab ich es nicht ganz kapiert, weil ich eben dann doch wieder denke: Draußen tobt das Leben, und hier ist alles still und tot. Das Gegenteil ist wahr. Die Stille, die ich mir für meinen Traum ausgesucht habe, ist alles andere als ein Stillstand. Sie ist Ausdruck eines intensiven Lebens, und Intensität ist immer mit der Fähigkeit verknüpft, allein sein zu können.

Deshalb habe ich in meinem Traum keine Familie. Ich bin nur meiner blinden russischen Großfürstin verpflichtet – und mir selbst und meiner Kunst.

Menschen, denen es gelingt, alleine ihren radikalen Weg zu gehen, haben mich schon als kleiner Junge beeindruckt. Ich wollte nie ein lausiger Germanistikstudent sein, der hin und wieder Radiobeiträge schreibt. Mich faszinierten Leute wie Gandhi, der den waffenstarrenden Planeten als halb nackter Asket herausforderte; Menschen wie Albert Schweitzer, der es gewagt hat, in das dunkle Herz Afrikas vorzustoßen – zu einer Zeit, als es noch keine Bundesligaspieler aus Namibia gab.

Eine meiner Lieblingsfiguren ist Franz von Assisi. Während jemand allenfalls davon träumen mag, ein Vogel zu sein, hatte er die wunderbare Idee, mit den Vögeln zu sprechen.

//////////////////////////////////////////////
© by Monsieur Farkas, 2016