
Der Regisseur und Schriftsteller Thomas Harlan (1925-2010) in einem Gespräch aus dem Jahr 2001 über Gesundheit und Körper, Politik und Widerstand, über Schreiben und Filmemachen – und sein Verhältnis zu seinem Vater Veit, Regisseur des NS-Propagandafilms »Jud Süß«. –
Wir sitzen in einem chinesischen Restaurant, ein paar Schritte neben der Berchtesgadener Klinik, in der Harlan behandelt wird. Später Vormittag. Harlan im Morgenmantel. Wir bestellen Ente, süßlichen Wein, Wasser.
Harlan zieht gelegentlich an der Zigarette des Interviewers.
Sie stehen wegen einer Erkrankung der Atemwege seit einiger Zeit unter ärztlicher Aufsicht. Wie denken Sie über Gesundheit?
Ich bin verwöhnt, weil ich nie krank war. Drei Tage weg vom Fenster, das ist das Maximale, was mir passiert ist. Das liegt aber nicht daran, dass ich eine besonders gute Konstitution hätte. Ich bin eher wie ein Insekt: Man wird scheinbar tot getreten, doch in der Gummisohle ist noch ein Loch, in dem man sich verstecken kann. Gleichzeitig sehe ich natürlich, dass man irgendwann den Preis zahlt; zum Beispiel dafür, dass man raucht. Aber ich bereue es nicht. Ich denke, Krankheiten entstehen gerade dann, wenn man sich zu oft den Spaß verderben lässt.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein. Es ist höchstens die banale Angst vor dem Leiden; dass es mühsam werden könnte. Und eine gewisse Sorge, meine Unabhängigkeit zu verlieren. Wenn ich einmal den Weg zur Toilette nicht mehr schaffe und im Rollstuhl geschoben werden müsste, das fände ich schlimm. Ansonsten habe ich nur den Wunsch, einige Dinge pünktlich in Ordnung zu bringen. Das ist alles.
Und die Vorstellung, nicht mehr zu existieren?
Es ist für mich ein Geschenk, dass ich da bin. Und das kann man sich nicht sehr gut multipliziert vorstellen. Das Päckchen wird aufgemacht, und der Inhalt ist irgendwann verbraucht. Nein, das kann mir keine Angst machen – schon deshalb nicht, weil ich in jungen Jahren überzeugt war, bereits gestorben zu sein.
Wie kam das?
Das hat zu tun mit dem Wissen von Geschichte; mit dem Wissen um irrsinnige Verbrechen. Ich war Anfang Zwanzig, als ich nach dem Krieg selbst begann nachzuforschen. Die Unfassbarkeit, dass es in Deutschland möglich war, Millionen von Menschen abzuschaffen – diese Unfassbarkeit erzeugte bei mir ein Gefühl des Zuviel. Was ich entdeckte und zu wissen begann, empfand ich als so ungeheuerlich, als könnte man nie wieder ein Wort sagen; als würde man verschluckt werden von dem, was man erfahren hat. Man fragt sich: Warum ist die Welt noch da? Wie ist es möglich, dass es weiter geht? Wie kann man noch atmen, obwohl man eigentlich erstickt ist? Es kam mir irgendwann so vor, als wäre ich selbst weggeatmet worden von diesem Zuviel. Und dann gibt es ein Erstaunen darüber, dass offenbar doch etwas übrig geblieben ist von einem – ein Rest, der das eigene Verschwinden immerhin beobachten konnte.
Ist es möglich, dabei ein neues Gefühl von Freiheit zu entdecken?
Es ist ziemlich phantastisch. Denn was kann schon passieren, wenn Sie sich bereits tot wähnten? Nichts mehr. Und nicht nur das; erst jetzt wird alles wieder möglich. Ich kann mich auf alles neu einlassen. Ich kann in einem Zug sitzen bleiben und taugend Kilometer weiter fahren als geplant – nur weil ich vielleicht einen Menschen kennen gelernt habe, der mir gefällt.
Wie empfanden Sie Ihre Kindheit – die Zeit vor dem Wissen?
Schön. Es ist eine selige Zeit gewesen. Wir hatten Boote, mit denen wir über den Wannsee ruderten, und bald schon, mit zehn Jahren, besaß ich meine eigene HJ-Marine-Uniform. Jede Raute, die ich mir auf den Ärmel nähen durfte, fand ich aufregend. Es bedeutete, dass es aufwärts mit mir ging in der Gruppe. Ich war stolz auf das, was ich anhatte.
Wie lernten Sie Goebbels kennen, den Minister für Propaganda?
Der lebte eine Zeit lang im Zimmer neben mir. Denn im Haus meiner Eltern wohnte eine Tschechin, die seine Geliebte war. Er war nicht täglich bei uns, aber wohl immer, wenn er konnte.
Was für ein Verhältnis hatten Sie zu ihm?
Heiß geliebt. Ich fand ihn klug. Begeisternd. Grelles Lachen. Der hatte einen fast bösartigen Schliff. Eines Nachts nahm er mich mit und ließ eines der größten Spielzeuggeschäfte Berlins öffnen. Nur für mich. Es ist unvergesslich für einen Jungen, wenn jemand die schlafende Stadt weckt und sagt: Passt mal auf, der Thomas darf sich jetzt seine Eisenbahn aussuchen. Da waren die Eltern nichts dagegen. Die waren ja verpflichtet, dir was zu schenken.
Wer war Ihr Vater?
Ein Mann mit humanistischer Grundhaltung, den ich oft strahlend und glücklich erlebt habe. Er konnte mir während der Dreharbeiten zu »Jud Süß« eine freundliche Postkarte schicken, auf der stand, wie gerne die jüdischen Schauspieler mit ihm arbeiten, und es gibt keinen Zweifel, dass es so war. Nicht mal in der Partei war er. Er hatte einen nationalen Fimmel, Deutschland war für ihn ein dickes Wort. Und er hat zwar gemerkt, dass man etwas Perfides von ihm wollte; aber dann ist wohl ein Pferd mit ihm durchgegangen. Er wollte »Jud Süß« so gut wie möglich machen, und ich glaube, ab da hat er aufgehört, etwas Bestimmtes zu verstehen. Der Geist aber, der am Ende hinter «Jud Süß« stand, ist nicht der Geist meines Vaters gewesen.
Trotzdem haben Sie in den Fünfziger Jahren Kinos angezündet, in denen die späteren Filme Ihres Vaters liefen.
Ja, das habe ich mal gemacht. Mein Vater war für mich kein Tabu. Mit ihm wollte ich, anfangen, und das hab ich dann auf eine mehr oder weniger rohlinghafte Weise getan. Bis zu einem bei stimmten Punkt konnte ich meinen Vater ja verstehen. Sogar Massenmorde kann ich irgendwo verstehen – wenn eine Wucht die Leute mitnimmt, und sie machen die unglaublichsten Dinge. Dann aber kommt ein Tag. Wenn kein Druck mehr da ist. Und wenn man sich da ein gutes Zeugnis ausstellt; wenn man für alles to lld Entschuldigungen hat, aber keine Einsicht – und das ist für mich die große Geschichte der Bundesrepublik –, dann sprechen Sie jeden Mord im Nachhinein selig. Und deshalb konnte ich nicht begreifen, dass in Vater einfach wieder angefangen hat, Filme zu machen – als wäre nichts gewesen. Ich glaube, es ist entscheidend, was jemand denkt, wenn er verstehen muss, was er getan hat. Mein Vater hätte wissen müssen, dass ein Film nicht nur ein Film ist, wenn Himmler die Anweisung geben konnte: Wer in Auschwitz »Jud Süß« nicht gesehen hat, bekommt keinen Sold mehr.
Veit Harlan ist 1965 auf Capri gestorben. Sie waren bei ihm. Welche Erinnerung haben Sie daran?
Ein bebend heißer Frühlingstag. Ein kleines schreckliches Spital: Da gab es Schwestern, die flüsterten auf Italienisch schon die Todesgebete, während du noch deine letzte Suppe gelöffelt hast. Wesentliche dabei aber war eine grundsätzlich neue Erfahrung. Mein Vater hatte ein Leben lang zu mir gesprochen, nie mit mir. Und hier war es zum ersten Mal eine ganze Woche lang möglich, mit meinem Vater sprechen. Es gab plötzlich Pausen. Wenn ich ihn etwas fragte, hat er bisweilen mit einer Antwort gezögert. Das kannte ich nicht. Ich fand das sehr schön: dass ich merkte, wie er zu zweifeln begann an bestimmten Dingen. Und es war auch deshalb eine erstaunliche Situation, weil ich ihn so verteufelt und verflucht hatte, dass ich mich an seiner Stelle gar nicht so nah herangelassen hätte. Wenn Sie Ihre Mutter oder Ihren Vater ablehnen, lehnen Sie im Grunde ab, von irgendwoher gekommen zu sein. Sie sagen damit: Ich komme von nirgends. Und aus dem Vater ein Nirgends zu machen, und dass dieses Nirgends Ihnen dies nachsieht, das finde ich bedeutend. Er ist dann in meinen Armen gestorben. Ich fand es außerordentlich von ihm, dass er mir das erlaubt hat.
Sie selbst haben als Filmemacher mit radikalen Mitteln nach neuen Wegen und Ausdrucksformen gesucht. Entstanden sind dabei Dokumentarfilme mit fiktiven Elementen wie »Wundkanal« oder Filme wie »Torre Bela«, mit dem Sie aktiv die portugiesische Revolution von 1974 unterstützt haben. Wie gelang es Ihnen, Ihr Leben als unabhängiger Regisseur mit Ihrem Familienleben zu verbinden?
Ich glaube nicht, dass es mir wirklich gelungen ist. Es war zumindest an der Grenze, ich habe die Familie ernsthaft in Gefahr gebracht. Um »Wundkanal« finanzieren zu können, habe ich das einzige Haus, das wir besaßen, verkauft – und mir den Zorn aller Beteiligten zugezogen. Oder ich habe zu den Dreharbeiten von »Souvenance« die Kinder nach Haiti mitgeschleppt und mich dann, so gut es ging, um sie gekümmert. Wenn Sie nun die Kinder heute fragen würden, würde ihr Lob nicht sehr groß sein, was mich angeht. Die würden eher sagen: zweifelhafter Vater. Der hat gebrüllt und war schlecht gelaunt. Den schlechten Ruf, den ich bei Ihnen hatte, habe ich erst langsam verlieren dürfen, als sie erwachsen wurden.
Wie kommt es, dass Sie vergleichsweise spät – mit siebzig Jahren – Ihren Debütroman »Rosa« geschrieben haben?
Ich weiß es nicht. Es gibt banale Gründe: weil ich krank wurde und nichts anderes tun konnte. Das andere ist, dass so eine Geschichte manchmal lauert, und es dauert seine Zeit, bis sie sich entscheidet. Die erste Seite habe ich vor vielen Jahren geschrieben, als ich in Kairo in einem Café saß. Das ist plötzlich gekommen. Ich habe angefangen, nur mit dem Körper der Figur, die Rosa heißt. Und das blieb dann erst einmal liegen.
Was ist Ihnen wichtig beim Schreiben?
Die Frage ist: Wie schafft man es, sich an begrifflich zerstörte Gebiete neu heranzutasten? Und ich glaube, das geht nur mit allergrößter Vorsicht. Es gibt eine schreckliche Abnutzung der Beschreibungen von Katastrophen in der deutschen Sprache. Man mag die entsprechenden Begriffe nicht mehr hören, weil sie alles nur zukleistern: Wörter wie Holocaust, Auschwitz und selbst Jude. Deshalb kommt es darauf an, in eine Art Nullsituation zurückzukehren, von der aus man die überkommenen Sprachformen wegkehrt – und versucht, neu sprechen zu lernen.
Wie beurteilen Sie – als politisch denkender Filmemacher – von heute aus die RAF, mit der Sie sich künstlerisch auseinander gesetzt haben?
Ich selbst würde keine Theorie entwerfen wollen, die Gewalt rechtfertigt. Da müsste man sich in einen Sessel setzen, nachdenken und wie alle anderen recht haben wollen. Ich würde aber nicht denken wollen, recht zu haben; ich würde es höchstens tun müssen. Was die RAF angeht, waren das für mich letztlich Leute, die dem Staat, den sie bekämpften, unglaublich ähnlich waren – auch ähnlich hassenswert. Wenn man nun jemand wie Herrn Schleyer, statt ihn umzubringen, nur bestraft hätte, das hätte ich nicht schlecht gefunden. Dass man ihm vielleicht seine Villen entzieht und ihn ein Jahr in einer Münchner U-Bahn-Station unter einen Glaskasten setzt. Aber er darf dann nicht wirklich körperlich leiden. Das würde zu sehr dem ähneln, was ich hasse: die grässliche Grimasse, die du kriegst, wenn du das machst, was du anderen vorwirfst. Ich glaube, das Wichtigste ist, dass ich dir, wenn du mein Feind bist, nicht ähnlich werde. Und dafür kann ich vielleicht sogar in Kauf nehmen, dass ich dir mein Bett anbieten muss.
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© by Monsieur Farkas, 2016
> Thomas Harlan, 1929 in Berlin geboren, 2010 in Schönau am Königssee gestorben, war eine der ungewöhnlichsten Figuren der deutschen Filmgeschichte. Als Sohn des Regisseurs Veit Harlan und der Schauspielerin Hilde Körber lernte er im Kindesalter Joseph Goebbels kennen. Nach Kriegsende zog er nach Paris, wo er Kontakte zu Kommunisten pflegte und Freunde fürs Leben fand: Klaus Kinski, Pierre Boulez, Gilles Deleuze. Wen er als Feind sah, bekämpfte er. So führten seine Recherchen Anfang der Sechziger Jahre in Polen zu zahllosen Anklagen gegen deutsche Kriegsverbrecher – und zu einer Anklage gegen ihn selbst wegen Landesverrats. In den Siebziger Jahren unterstützte Harlan – filmisch und organisatorisch – revolutionäre Bewegungen in Lateinamerika, Portugal, Angola. Zum Skandal schließlich wurde die Aufführung seines Films »Wundkanal« bei der Berlinale 1985. »Wundkanal« schildert Entführung und Verhör des NS-Juristen Alfred Filbert durch eine bewaffnete linke Gruppe und greift die damalige Diskussion auf, dass Gefangene der RAF in Stammheim von staatlicher Seite ermordet worden sein könnten.