
Eine flüchtige Begegnung mit der Berliner Rock’n’Roll-Combo Stereo Total, die sich im elekrifizierten Niemandsland zwischen Trash, Schlager und französischem Chanson bewegt, bei ihrer Deutschlandtour 1997.
Lieber Geschäfte plündern als fernsehen, heißt es in einem ihrer Songs. Auch sonst neigt die Schlagersängerin Françoise Cactus zum Unkonventionellen. Die schlaksige, hochgewachsene Madame um die dreißig weiß zum Beispiel genau, was einmal auf ihrem Grabstein stehen soll:
Hier liegt sie, so wie sie zu liegen pflegte
Nur dass sie, solange sie lebte
den Po dazu bewegte.
Und nicht nur den. Auf der Bühne setzt sich die Wahlberlinerin ans Schlagzeug, um Rock’n’Roll zu klopfen, greift zur Gitarre, kramt in ihrer Handtasche nach Bonbons, Zigaretten, Tröten oder einer Maultrommel, blättert in einem Schulheft nach dem Text eines frisch verfassten Stücks oder wendet sich mit französisch gefärbtem Akzent ans Publikum: »Wollt ihr jetzt lieber etwas Trauriges?«
Charmant, das ist sie, auch wenn sie das Wort nicht mehr hören mag, seit, ja, seit Mme Cactus weltberühmt geworden ist.
Die Welt heißt in diesem Fall Kreuzberg, wo sie vor ein paar Jahren beim Einkaufen den experimentellen Musiker Brezel Göring kennengelernt hat.
Er: Sänger der psychedelischen Sigmund Freud Experience.
Sie: Frontfrau der berüchtigten Lolitas.
Er: sonore Stimme, ausdrucksstarke Mimik, akrobatisch begabt.
Sie: natürliche Ausstrahlung, humorvoll, ins Leben verliebt.
Keine schlechten Voraussetzungen also, um neu anzufangen. Doch der erste gemeinsame Song geht in die Hose: ein Küchenrezept, gesungen über elektronisch erzeugtem »schrecklichem Krach«.
Seitdem hat sich viel getan, auch wenn die fiependen Geräusche geblieben sind. Das Repertoire enthält jetzt eine Menge hübscher Melodien. Hinzugekommen sind außerdem die italienische Bassistin Angie und der skurrile Bremer Sängerknabe Reimo. So ist Stereo Total mittlerweile nicht nur die beste deutsch-französische Chanson-Rock-’n‘-Roll-Heimorgel-Formation; es ist die einzige.
»Und nun eine weitere Nummer«, so kündigt es Brezel Göring an diesem Abend in München an, »mit Fransssois … Cactussss … Applaus!«
Und diese, ein wenig leiser: »Jetzt singe ich ein Lied über einen Pariser Freund, der aussieht wie ein Pferd.«
Die weiteren Stücke handeln von der nötigen Distanz in Beziehungen (»Schön von hinten!« ), vom einsamen Reisenden im Weltall (»Cosmonaute«), vom »Haute-Couture-Scheiß, den niemand braucht« (»Supergirl«) oder von einem nackt auftretenden verwirrten Schlagerstar (»Grand Prix d’Eurovision«).
Musikalisch lassen sich Stereo Total schwer festmachen. Die Gruppe fühlt sich inspiriert von Serge Gainsbourg genauso wie von Louis-de-Funès-Filmen, von Alexandra oder britischem Punkrock, und auch Bands der frühen achtziger Jahre wie Geniale Dilletanten oder Tödliche Doris sind wichtige Einflüsse.
Das Entscheidende aber ist weniger die Stilvielfalt als die Herangehensweise: Stereo Total sind Musikliebhaber. Sie spielen mit ihrem Material; doch sie kokettieren nicht etwa mit ihren bisweilen dilettantisch anmutenden Fähigkeiten am Instrument, wie Trash-Bands das oft tun. Musik ist für sie einfach die Fortsetzung des Alltags mit anderen Mitteln: Unperfekt ist frischer, das Spontane dem aufwendig Produzierten vorziehen. Wer das nun Schlager nennt, liegt nicht falsch.
Doch mit dem ungebrochenen Schlagerrevival hierzulande will die Band nichts zu tun haben. Deutsche Schlager seien glatt und durchgestylt, sagt Brezel, und würden nur alte Rollenbilder aufwärmen.
Für Chanson-Fan Francoise dagegen, die schon als Ur-Girlie gehandelt wurde, ist Emanzipation selbstverständlich: »Ich mache, was mir gefällt, egal, was man von mir als Frau erwartet.«
Und obwohl ihre Texte vor allem von Liebe, Sex und Katzen handeln, versteht sie sich als durchaus politisch. Nur, Liebeslieder mag sie eben lieber als Parolen. »Fuck Chirac« würde sie niemals singen. »Wozu? Auch wenn wir so denken, es würde stilistisch nicht zu uns passen.« Eines aber hat die Anarchistin Cactus sogar mit Helmut Kohl gemeinsam: Sie ist optimistisch – selbst dann, wenn es keinen Grund dafür gibt.
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© by Monsieur Farkas, 2016
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