Romanfiguren

Er fühlte sich seltsam, und das lag nicht nur daran, dass er Marie noch nicht kannte.

Was aber war es? Er wusste es nicht. Gott wusste es nicht. Niemand wusste es. Auch der Marktplatz war leer, sogar die Tauben waren ausgeflogen. Scheiß auf die Tauben, dachte er, und als er an einer schweren Holztür vorbeiging, öffnete er sie einfach. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt zu beten. Aber zu wem?

Wie unser Held so dasitzt auf einer der Holzbänke, im kühlen Tempel, mit gekrümmtem Kreuz und dumpfem Blick, könnte man fast Mitleid mit ihm haben. Am liebsten möchte man ihm zurufen: Steh auf: Höre die Botschaft, tanze! Aber so geht das nicht. Nicht an diesem Tag. Es ist Karfreitag, der stillste der stillen Tage, und deshalb gilt: Artikel 3, Absatz 2, Tanzverbot. So steht es geschrieben. So will es der Gesetzgeber. Doch den kennt unser Held nicht.

Wie jeden Freitag geht er ins Atomic Café. Diesmal steht der Schriftsteller Andreas Neumeister am Mikrophon, der die Lesereihe »Tanzverbot« veranstaltet, und  kündigt den nächsten Autor an. Eigentlich findet Neumeister Lesungen blöd: »Literaturgetto!« In Clubs aber ist Bewegung, sagt er. Es ist grell und laut, es wird gekreischt und getrunken, und umso wohler fühlen sich hier auch Romanfiguren.

Heute aber ist es anders. Die Stille irritiert unseren Helden zunächst. Dann gewöhnt er sich daran, später empfindet er sie sogar als angenehm. Er hört dem Mann zu, der vor einem großen stummen Basslautsprecher sitzt und vorliest. Die Frau, deren Namen er später erfahren wird, lässt sich in eine Couch sinken.

Marie ist 23. Sie hat eine Rahmenhandlung, die sie von ihren Großeltern geerbt hat. Haarfarbe: schwarz, Augenfarbe: grün, besondere Kennzeichen: ja. Sie nippt an ihrem Glas. Heute ist sie ziellos durch die Stadt gelaufen, die Mauern standen sprachlos und kalt, im Winde klirrten die Fahnen. Eine Freundin hatte von der Bristol-Bass-Nacht am Karsamstag erzählt; von den DJs, die nicht irgendwelche Platten dabei haben, sondern Dubplates – Rohlinge, die man nur ein paarmal spielen kann. Bristol-Bass, der Klang dieser Wörter gefällt ihr. Doch es wird anders kommen. Gleich wird sie neben unserem Helden stehen. Sie wird ihn um Feuer bitten. Er wird keins haben. Aber das wird egal sein.

Es war merkwürdig. Obwohl keine Musik lief, tanzten sie bis in den frühen Morgen, erst drinnen und dann draußen auf der Straße, so lange, bis die Kleider in Fetzen hingen, und dann gingen sie zu ihr, in ein Himmelbett, und sind erst nach drei Tagen wieder aufgestanden.

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© by Monsieur Farkas, 2016