Heute ist ein neuer schöner Tag

Der Schriftsteller Rainald Goetz in einem Gespräch im Jahr 1999 über sein panisches Lebensgefühl und die Einsamkeit des Schreibenden, über Text, Feuilleton, Drogen, Liebe und alles, was der Abfall ist.

Sie sprechen und schreiben immer wieder von einem nicht näher definierten panischen Lebensgefühl. Wovor haben Sie Angst?

Vor der Wirrheit, in der ich das gesamte soziale Procedere erlebe. Wenn wir jetzt zu zweit reden, ist das gerade noch die Situation, die ich als verständlich empfinde. Schon wenn ein dritter Mensch dabei ist, beginnt für mich im Grunde eine Art von Nichtverstehen. Alle meine Freunde sind große Sozial-Weltmeister. Im Unterschied zu denen sehe ich an mir, dass ich in unübersichtlichen Situationen überhaupt keine funktionierenden Reflexe habe. Alles wird Reflexion. Das strengt mich brutal an.

Neben der Arbeit an Ihren Büchern fotografieren Sie, sammeln Zeitungsartikel, fertigen ständig Notizen an über das, was um Sie herum passiert. Man fragt sich: Kann Rainald Goetz jemals abschalten?

Dauernd. Da ist einmal die Lektüre, vor allem die Lektüre theoretischer Texte, das ist für mich wie Trance. Komplett abschalten, das passiert ausserdem beim Schreiben. Dann gibt es noch zwei andere Bereiche: das Feiern mit Freunden; davon handelt die Erzählung »Rave«. Und die andere große Geschichte, die der Liebe, die ich in meinen Sachen bisher ausgeklammert habe. Wenn also in bestimmten Momenten nur die Körper sprechen, wenn Sprache und Geist in der Liebe aufgehen und schweigen.

Warum war Liebe in Ihren Büchern bisher kaum ein Thema?

Weil es so kompliziert ist. Ich folge da meinen Intuitionen, und bisher habe ich nicht den richtigen Ton gefunden. In der Erzählung »Dekonspiratione«, die im kommenden Frühjahr erscheint, spielt eine Liebesgeschichte auf bisschen abstrakte Art eine aus dem Hintergrund her verborgen führende Rolle.

Sie sind jetzt 45. Wie erklären Sie sich, dass Sie überhaupt erst so spät eine Liebesgeschichte schreiben können?

Das weiß ich nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich insgesamt ein Spätzünder bin.

Sie waren immerhin mit Ende zwanzig Doktor der Geschichte und der Medizin, und Sie hatten da bereits Ihr erstes Buch, den Roman »Irre«, veröffentlicht.

Das schon. Ich habe in der Zeit zwischen zwanzig und dreißig, in der alle anderen loslegen, ein komplett erwachsenes Leben geführt. Erst dann kam für mich der Punk, und den Nachtleben-Fun habe ich erst in einem Alter entdeckt, in dem sich die meisten normalerweise schon wieder davon verabschieden.

In Ihrem aktuellen Tagebuch-Roman »Abfall für alle« beschreiben Sie Ihr Gefühl, das Sie mit Anfang dreißig hatten: als wäre alles, was man je war und ist, vernichtet. Zugespitzt gesagt, so schreiben Sie weiter, gehe dieses Gefühl nie wieder weg.

Das hängt damit zusammen, dass ich das Schreiben von Anfang an in einer radikalen Form betrieben habe. Indem man für ein Buch wie »Irre« zerstörte Biographien noch einmal durchlebt, greift man vor ins Alter und fühlt sich da so intensiv ein, dass man innerlich selbst an diesen Endpunkt kommt. Das ist einer der Gründe, warum einen das Schreiber-Leben so unglaublich kaputt macht.

Aber Sie lieben Ihren Beruf auch – man kann den Eindruck haben, der Text sei Ihr Leben.

Das hat mit den Glücksgefühlen des Schreibens zu tun. Im Gelingen eines Textes gibt es Erlösungsmomente, in denen die Unfähigkeiten des praktischen Lebens verschwinden. Für mich bedeutet Schreiben also auch, in meinen relativ disparaten und zerfaserten Lebensbewegungen Ordnung herzustellen. Außerdem bin ich wahnsinnig gerne alleine, und ich freue mich, wenn ich morgens in Ruhe arbeiten kann.

Der Morgen hat für Sie eine besondere Bedeutung?

Ich wundere mich selbst. Ich gehe abends so tot ins Bett. Geduckt und gebückt und erschlagen vom Tag kriecht man hinein. Und dann wacht man auf, und: Ah! A new day. Auch wenn Scheißwetter ist. Egal. Heute ist ein neuer schöner Tag! Gehen wir es wieder an. Vielleicht wird alles toll, vielleicht wird alles anders, vielleicht wird alles gelingen.

Letzte Woche haben Sie Ihr solipstistischen Schriftsteller-Leben für kurze Zeit aufgegeben – und sind auf Lesetour gegangen. Wie war das für jemand wie Sie, der nicht gerne öffentlich auftritt?

Ich war brutal verunsichert. Ich habe tonnenweise Bücher dabeigehabt, ich wollte aus allen möglichen Büchern Auszüge lesen, Verbindungen herstellen. Gerade in München war es irr: Ich habe meine komischen Notizen nicht mehr verstanden. Eigentlich wollte ich ganz schnell hin- und herblättern, zack-zack, aber es hat nicht so funktioniert, wie ich es geplant hatte.

Bisher hat es Ihnen offensichtlich Spaß gemacht, Polemiken gegen Literaturhäuser zu schreiben. Jetzt sind Sie selbst dort aufgetreten. Warum überhaupt?

Zuletzt bin ich komplett verschwunden gewesen und habe eine Art perverses Mönchsleben geführt. Ich dachte: Das muss ich jetzt aufbrechen. Das ist als Haltung zu kaputt. Ich finde es richtig, Widersprüche zu leben. Es stimmt: Ich bin ein Fan der Stille. Und jedes Mal, wenn irgendein Leser irgendwo ein Buch aufschlägt, betritt er das Haus der Literatur, da ist er alleine, im Raum aller anderen schriftlich Sprechenden, das reicht doch. Gut, und jetzt bin ich doch in die von mir kritisierte Institution reingegangen -– auch weil ich das Bedürfnis hatte, meine Beobachterposition aufzugeben und mich selbst zur beobachtbaren und damit auch idiotischen Figur zu machen. Das ist für mich ein Experiment.

Wie auch Ihr Roman »Abfall für alle«, den Sie ein Jahr lang jeden Tag im Internet weitergeschrieben haben und der jetzt in gedruckter Form erschienen ist. Wie kamen Sie auf den Titel?

In einem Gespräch wurde ich gefragt, für wen ich eigentlich schreibe, und ich habe, wie automatisch, geantwortet: für alle natürlich. Das war der erste Anknüpfungspunkt. Außerdem beginnt das Wort Abfall mit den ersten beiden Buchstaben des Alphabets; Wittgensteins Satz: Die Welt ist alles, was der Fall ist, ist darin enthalten; das All genauso wie der Müll; und schließlich die Idee, dass der Trash seine eigenen Wahrheitsmomente hat und es Spaß machen müsste zu untersuchen, was der tägliche Abfall eines jeden Lebens ist. In diesem Fall eines speziellen Intellektuellen-Lebens.

Einigen Kritikern kam der Titel gerade recht. In der FAZ hieß es, das Buch sei eben kein Roman, sondern Müll.

Ja, genau, das finde ich okay. Das ist eben von einer anderen Seite her gesehen. Der Kritiker der FAZ fühlt sich ja bei dem Wort Roman an ein ihm entgegen quellendes Sofa erinnert, an etwas Gemütliches. Ich schreibe natürlich einen modernen Roman, einen Entwicklungsroman, der die Form des Romans entwickelt – weniger den Helden. Deshalb war anfangs das Internet ein sehr gutes Medium dafür. Man kuckt kurz: Spricht mich das an? Ist ein Wort da, auf das ich reagiere? Ein Name, der mich kickt? Das Buch beschreibt eine panische Existenzweise, zu der auch eine panischere Textrezeption passt …

… und es handelt von banalen Alltagserledigungen genauso wie von Systemtheorie. Gab es Themen, die Sie bewusst herausgelassen haben?

Die Dinge des Privaten. Dieser Roman ist sehr persönlich, aber eben nicht privat. An einer Stelle des Buchs geht es um das Problem, dass die Authentizität in Wirklichkeit eine komplizierte Konstruktion ist, die das Private im fiktiven Text verortet – und gerade im Tagebuch eben nicht. Das hat mich die meiste Kraft gekostet: zu erspüren, was eine persönliche Ansprache sein soll, ohne aber penetrant zu werden oder dem Leser nackt und distanzlos gegenüberzutreten.

Gerade das aber könnte doch sehr interessant sein. Peter Rühmkorf etwa hat in seinen unter dem Titel »Tabu« veröffentlichten Tagebüchern nichts ausgeklammert, nicht einmal altersbedingte sexuelle Probleme. Das, so Rühmkorf, sei die Aufgabe von Kunst: die Dinge bloßzulegen.

Bei Rühmkorf habe ich mich an den entsprechenden Stellen geschämt für ihn. Ich glaube, wenn man allzu privat wird, schämt man sich immer ein bisschen für den Autor. Dieses Gefühl wollte ich meinen Lesern nicht zumuten.

Sie haben also Ihre tagebuchartigen Aufzeichnungen für das Buch stark bearbeitet?

Wie auch sonst habe ich den ganzen Tag über Notizen gemacht. Spät am Abend habe ich meine Tageserzählung beendet, eine Nacht darüber geschlafen und das Ganze am nächsten Morgen noch einmal redigiert. Ich habe die Texte also erst rausgedonnert, dann aber musste ich viel wieder herausnehmen oder überschreiben.

An einer Stelle des Buchs steht: Es gebe keine gute Drogenkunst, keine guten Alkoholikerproduktionen. Haben Sie selbst Erfahrungen damit?

Definitiv nicht, auch wenn Leute gesagt haben: Probier es doch mal aus. Ich hatte immer das Gefühl, da muss man aufpassen. Das Alleinschreibertum ist ohnehin eine gefährdete Existenz, und ich kenne einige Geschichten von Leuten, die ihre Schreibmöglichkeiten mit Drogen ruiniert haben. Für mich müssen die Widerstände, die man mithilfe von Drogen möglicherweise beseitigen könnte, in die Arbeit mit einfließen. Trinken und Rauchen, das gehört für mich in den Bereich des Sozialen: sich Feuer geben, gemeinsam anstoßen. Wenn ich schreibe, empfinde ich vor allem die dabei wachsende Klarheit als lustvoll.

Sind Parties nicht mehr so wichtig für Sie?

Doch. Es ist nur eine Frage der Prioritäten. Ich kann nicht gleichzeitig feiern und arbeiten. Die Öffnung hin zur Nachtleben-Welt aber ist extrem wichtig – und immer neu, wenn ich es wieder erlebe. Es ist für mich das Schönste überhaupt.

Welche Musik hören Sie – neben Techno?

Alles. Bei uns zuhause lief nur und ununterbrochen klassische Musik, weil mein Vater ein Musikwahnsinniger ist. Ich selbst habe jahrelang Klavier und Geige gespielt und kenne diese musikalische Tradition. Jetzt war ich paar Monate in Wien, ohne Fernseher, und habe da dauernd Radio gehört, Wortsendungen, Klassik, Analysen. Ganz herrlich. Da geht mir noch einmal auf ganz andere Art das Herz auf.

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© by Monsieur Farkas, 2016

> Rainald Goetz gibt kaum Interviews. Und wenn, dann ist er es, der die ersten Fragen stellt: »Wie alt sind Sie? Was haben Sie bisher so gemacht?« Bei solchen Gelegenheiten wolle eben auch er etwas dazulernen. Und lässt für alle Fälle sein eigenes Aufnahmegerät mitlaufen.