Das Tagebuch als zweites Ich

Ein Gespräch mit dem Dichter Peter Rühmkorf (1929-2008) über Tabus und Tagebücher, Intimität und Sternschnuppen, Deutschland West und Ost, Haschisch und den Hans am Rande, geführt im Jahr 2000.

Es ist seltsam, neben Ihnen zu sitzen: Sie kennen mich überhaupt nicht. Ich dagegen kenne Sie auf eine sehr persönliche Weise, weil ich mir erlaubt habe, in Ihren Tagebüchern zu lesen. Was ist es für ein Gefühl, mit einem intimen Journal wie Ihrem »Tabu I« in der Öffentlichkeit zu stehen?

Das ist für mich nichts Neues. Auch bei Gedichten gibt man persönliche Dinge preis, allerdings versteckter. Das gehört bei mir also zum Geschäft. Es geht um subjektive Gattungen. Das Gedicht ist eine solche Gattung, ebenso das Tagebuch. Aber es handelt sich bei alldem nur um die Spitze des Eisbergs. Das wirkliche Massiv ist in den Gewölben des deutschen Literaturarchivs in Marbach vergraben und wird erst fünfzig Jahre nach meinem Ableben die Nachwelt – hoffentlich – erfreuen.

Aber auch zu Lebzeiten wagen Sie sich weit nach vorne. Jeder kann nun erfahren, dass Sie am 27.1.89 »vom Suff der letzten Tage viel Druck auf den Eiern«, aber im Anschluss nur eine »flache Verpuffung« hatten – oder dass Sie einige Wochen zuvor tief gekränkt waren, weil Sie bei den Weihnachtsempfehlungen der Zeit nicht erwähnt wurden. Das geht weit über die Subjektivität in Gedichten hinaus.

Ich gebe ja das zur Einsicht, was meine Filter bereits durchlaufen hat. Das Tagebuch zu Lebzeiten ist eine kontrollierte Selbsteröffnung. Dabei ist die Hauptsache nicht so sehr der Inhalt als vielmehr die Methode: wie zeige ich meine Wunden und Pflaster, wie führe ich das vor. In den Schwesterdisziplinen der Literatur ist das gang und gäbe, etwa, wenn Jansen oder Dürer sich im Verfall gezeichnet haben oder wenn der alte Rembrandt sein Säufergesicht gemalt hat Also, wenn man mein »Tabu« mit diesen radikalen Selbstporträts vergleicht, ist das gar nicht so erstaunlich.

Welche Rolle spielt der Leser, die Leserin beim Tagebuchschreiben?

Zunächst überhaupt keine. Das Tagebuch ist eine ganz private Besprechungsstation, ein Beichtstuhl, eine Reflexwand, ein Schatten; ein zweites Ich, das man braucht, um das wacklige primäre Ich zu stabilisieren. Im Gespräch mit seinem Tagebuch fühlt man sich nie ganz alleine. Jede Niederlage kommt sofort in den Rang eines interessanten, kleinen Erlebnisses – und wird dadurch weniger schlimm.

Was waren die Auswahlkriterien für den immerhin fünfzehntausend Seiten umfassenden Stoff? Gab es Tabugrenzen für das »Tabu«?

Ich musste natürlich eine gewisse Diskretion walten lassen. Private Liebesbeziehungen habe ich herausgestrichen; noch lebende mir sehr vertraute Personen habe ich ebenfalls verschont Allerdings wird einem von allen Seiten Geheimmaterial zugetragen. Der eine berichtet stolz, wie er Versicherungsbetrug begangen hat, der andere erzählt, wie er bei seiner Firma Material geklaut hat. Viele möchten sich mit solchen Geschichten – natürlich anonym – verewigen.

Schriftsteller wie B.Traven oder Jerome Salinger haben ihre biographischen Spuren bis aufs Äußerste verwischt und wirken deshalb umso interessanter – Sie dagegen geben dem Mythos keine Chance.

Ich bin ja auch nicht dafür da, Mythen aufzubauen. Zu meinem Selbstbild gehört das wahrhaftige Sprechen über sich selbst vor der Welt. Das klingt etwas seltsam, aber das Tagebuch hat einen Wahrhaftigkeitsanspruch. Ich will zwar nicht die letzte Wahrheit verkünden, aber mit mir selbst wahrhaft umgehen, mir auch über meine hässlichen Charakterzüge klar werden, über Neid, Missgunst, Ressentiments …

… gegenüber manchem Schriftstellerkollegen zum Beispiel …

… ja, das auch, selbstverständlich. Wenn man offen darüber spricht, ist das ein durchlüfteter Betrieb. Die meisten meiner Kollegen sitzen auf ihren Ressentimentklößen. Selbst wenn man sich mit ihnen persönlich unterhält, wagen sie es nicht, Farbe zu bekennen. Aber ich ich gehe niemanden hinterrücks an, sondern sage offen, wer mir gefällt und wer nicht. Außerdem finde ich für viele Leute bewundernde Worte: Robert Gemhardt, Gottfried Benn, Arno Schmidt. Das Buch wimmelt von Lobpreisungen, das wird gerne übersehen. Und wenn ich etwa über Martin Walser oder Thomas Bernhard eine giftige Formulierung verwende, ist das nicht überzubewerten, denn das Tagebuch spricht ja nur für den Tag.

Sie haben kürzlich davon gesprochen, dass sie mit »Tabu« einen Beweis liefern wollten. Wofür?

Ich wollte zeigen, dass das Leben auf seiner Oberfläche gar nicht so furchtbar bewegt ist. Wir führen doch alle ein Dutzendleben. Und doch halte ich selbst Kleinigkeiten für aufschreibenswürdig; es geht darum, sie ganz genau wahrzunehmen. Ob es ein Sonnenuntergang ist, ein Gespräch, das ich belausche oder ob bei mir vorm Haus der Elbgang ist – ich will diese Dinge äußerst genau zu Papier zu bringen. Ich bin wie ein impressionistischer Zeichner. So wie Liebermann springende Pferde mitnimmt, Toulouse-Lautrec ganz schnell irgendeine Café- oder Puffszene hinwirft oder Zille ein Kind auf dem Pisspott porträtiert – so nehme ich die Welt auf, da wo sie aus dem Rahmen fällt. Das Tagebuch ist auch das Skizzenbuch eines literarischen Schnellzeichners.

Ursprünglich sollten Ihre Skizzen die Stoffsammlung für einen vielleicht noch zu schreibenden Roman über einen »Hans am Rande« sein …

Ja, ich bin eigentlich der geheime Agent dieses »Hans am Rande«. Der ist ein unglücklicher Künstler. Einer, der sich in die Society begibt, irgendwo am Tisch sitzt und mitnippt. Der einen Hass auf die Gesellschaft und einen Neid entwickelt, weil er selbst nichts wird. So ’ne Figur hatte ich, und die sollte sich dann in die DDR absetzen und zu großem Ruhm gelangen. Der liest also in einem Prenzlauer Künstlerkeller irgendwelche Blödsinnsgedichte, und im Westen wird er später als Widerstandslyriker gefeiert. Eine richtige Geschichte aus dem Bluffkasten der Ruhmwerdung – und auch der deutschen Einheit.

Im Tagebuch ist daraus so etwas wie ein kritisches Protokoll dieser »deutschen Schicksalsjahre« geworden. Welche Bedeutung hat dieses Thema für Sie?

Ich bin eine Probiernatur und bin ohne vorgefasste Bleche an die Wiedervereinigung herangegangen. Als ich gesehen habe, dass die Grenze und diese widerlichen Beobachtungsbaracken gefallen waren, habe ich mich von Herzen gefreut. Aber als in die Lücken auf einmal Mercedesse und BMWs drängten, um das Land aufzukaufen, wurde ich wütend. Mein nächster Eindruck war die haben es aber auch noch mal verkommen lassen; der Sozialismus, an den ich geglaubt habe, um Gottes willen, was für einen Schutthaufen haben die unter dem Siegel »Nationales Kulturerbe« verwaltet. Und so verzeichnet der Kopf das Hin und Her, die Bedenklichkeiten und Schwierigkeiten, bis sich ein Meinungsfaden herausbildet. Ich bezeichne mich oft als VP, als Versuchsperson, die diese und jene Erfahrung macht, und egal, wie es ausgeht, ich schreibe es auf. Ich wollte dieses Protokoll – wie ein Kopf funktioniert – auf dem Papier haben.

Auf dem Papier haben, das ist bei Ihnen wörtlich zu nehmen: Sie arbeiten nicht am Computer. Kann man sich ihr Unternehmen als eine riesige Zettelwirtschaft vorstellen?

Ich mache jeden Tag hunderte Beobachtungen, die ich notiere und mit einem Datum versehe. Wenn ich zum Beispiel auf mein Mittagessen warte, habe ich eine halbe Stunde Zeit. Ein kleiner Spaziergang, ein Entsetzen vor dem Femseher, eine kleine Beleidigung am Telefon: all dies hat in mir etwas ausgelöst, und ich halte das fest So besteht mein Leben aus Myriaden von winzigen Fetzen Papier.

Wäre es nicht einfacher, Sie würden ein Diktiergerät benutzen?

Das ist eine große Verlockung, aber ich will mir das nicht mehr angewöhnen. Meine Technik ist natürlich mühsamer. Oft denke ich, diese Unterhaltung eben kriege ich nie wieder so hin und gehe dann extra aufs Klo, um sie ganz schnell zu stenographieren.

Gibt es auch Momente, von denen Sie das Gefühl haben: das ist so schön oder poetisch, das lass ich frei und schreib es gar nicht auf, sondern lass es einfach passiert sein?

Durch das Tagebuch ziehen sich mehrere rote Fäden. Es gibt diesen Deutschlandfaden, den Krankheitsfaden, es gibt aber auch einen drogistischen: den Hanffaden. Wenn man, sagen wir mal, einen durchgezogen hat und in eine astrale Gesellschaft gerät, wo die Funken nur so hin- und herfliegen, da kann man nicht mehr mitschreiben.

In so erhabenen Momenten, wo alle einen Schwebezustand erreichen, wo die Witze und Bonmots und die besseren Sternschnuppen nur so hin- und herfliegen, in dem Moment denke ich: Nein! Du darfst das jetzt nicht aufschreiben. Sonst ist die Stimmung dahin.

//////////////////////////////////////////////
© by Monsieur Farkas, 2016