Musik, sagt Cioran

Heute lass’ ich es gut sein: Ich will kein Klingeln. Ich will kein Du. Ich werde nirgends hingehen. Es gibt nichts, was mich locken könnte: kein Junge, kein Mädchen, kein Paradies. Das ist die Wintermüdigkeit, würde meine Oma sagen.

Und im nächsten Satz hätte sie es wieder vergessen. Sie hätte sogar vergessen, zu wem sie es gesagt hat. Denn sie vergisst praktisch alles. Und deshalb geht sie jeden Morgen als erstes zu ihrem Wandkalender, streicht den gestrigen Tag durch und krakelt auf das nächste Kästchen »heute«. Ein schöner Kalender; ein ganzes Heer von »heute«, alle durchgestrichen, alle erledigt, bis auf das eine, das momentan gültige. Das gefällt mir. So weiß sie immer, was Sache ist. Ich liebe meine Oma.

In meinem Bewusstseinsstrom, dieser nicht enden wollenden Party von Gedanken und Gefühlen, lasse ich meine Oma Boogie tanzen, mit den schärfsten Tänzern der Welt. Ich lasse sie mit Lydia Lunch an der Bar stehen, beide rauchend, beide ein Cocktail in der Hand, und sie reden über ihre Wut und ihre Lust und über den ewigen Kampf der Frauen mit den Männern. Meine Oma und die gealterte Punk-Queen verstehen sich prächtig.

Auf einmal taucht Theobald auf. Wie aus dem Nichts. Beinahe lautlos hat er sich an die Theke geschlichen, und jetzt zieht er aus der Tasche seines ultragrünen Samtjackets ein Fläschchen mit Raum-Zeit-Tropfen. Irres Zeug, sagt er, lacht wie ein wahnsinnig gewordener Medizinmann, lacht so laut, dass man es noch in drei Wochen hören wird.

Ob ich nicht doch noch weggehen soll, blitzt es kurz auf, doch ich verwerfe den Gedanken wieder. Lieber blättere ich in meinem Tagebuch, spiele Daumenkino mit den vielen vollgekritzelten und den wenigen übrig gebliebenen Seiten und wundere mich, dass alles genauso ist, wie es sein soll.

Was Valerian wohl gerade macht, der Süße mit seinen dunklen luftigen Locken, denke ich, der einzige, der mich gerade reizen würde, der mich anblinzelt aus der Ferne, dem ich immer noch nicht begegnet bin, weil er wohl zu schwerelos ist, um es mit einem Wesen aus Fleisch und Blut aufnehmen zu können.

Ich schalte die elektrische Sonne an. Ich koche Tee. Ich schalte alle Gedanken aus. Lass sie ziehen, denke ich, wie die Regenwolken, die ihren Weg schon finden werden: in den Ozean-Club. Und wieder zurück.

Ich werde hier bleiben. Keine Party, kein Konzert, kein Kino kann mich auf die andere Seite ziehen. Ich male ein Bild, nur für mich, aus Spaß, und verbrenne es wieder. Ich setze mich ans Klavier, lasse die Finger über die Tasten gleiten und schreie, so leise es geht. Dann streiche ich den Tag durch, mitten in der Nacht. Ich lege eine Platte auf. Es kann nur diese sein, Bad Hair Blues von Jimpster, keine andere. Ich schließe die Augen. Ich werfe den Schlüssel weg, weit weg, und alle Wörter lösen sich endlich auf in Klang.

Musik, sagt Cioran, ist die Zuflucht der vom Glück angewiderten Seelen.

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© by Monsieur Farkas, 2016