Der Tanz, der Traum und der Tod

Ein Gespräch mit dem Komponisten Mikis Theodorakis aus dem Jahr 1999 über die griechische Resistance, Musik als Waffe, Religion und Zivilisation, Folter und Schmerz, Alexis Zorbas und den Riss im Menschen.

Sie haben sich 1942 der griechischen Resistance angeschlossen. Was für ein Verhältnis haben Sie zu den Deutschen?

So etwas wie die Besetzung Griechenlands wird meine Generation niemals vergessen können. Allein achtzig Prozent der griechischen Juden wurde von den deutschen Nazis deportiert und umgebracht. Geblieben ist ein Gefühl der Angst. Ich bin sehr sensibel für das, was heute in Deutschland passiert. Ich denke, Deutschland darf nie wieder eine Großmacht werden. Meine Gefühle gegenüber den Deutschen sind heute aber sehr freundschaftlich.

Während der Militärdiktatur von 1967 bis 1974, als Sie selbst Teil einer starken linken Bewegung waren, wurden Ihre Lieder zensiert. Sogar das Hören von Theodorakis-Platten in den eigenen vier Wänden wurde unter Strafe gestellt. Was war das Gefährliche an Ihrer Musik?

Wenn die Musik eines Komponisten verboten wird, ist das gleichzeitig sein größter Ruhm. Unabhängig von ästhetischen Dimensionen war meine Musik eng mit den Idealen des griechischen Volkes verbunden, zum Beispiel dem Gefühl der Freiheit. Deshalb war meine Musik eine Waffe in den Händen der einfachen Leute, weil es eine Musik gegen jede Form von Macht war.

Kann man Ihre Musik außerhalb des griechischen Kontextes überhaupt verstehen?

Seit 1964 gebe ich überall auf der Welt Konzerte. Ich glaube schon, dass ich überall verstanden werde. Wohl deshalb, weil es mir gelungen ist, eine lebendige Art von Musik zu komponieren, während viele andere zeitgenössische Komponisten den Kontakt zum Publikum verloren haben. Und vielleicht liegt es auch daran, dass ich an die Einheit der Musik glaube. In der späten Phase meines Schaffens sind die Sinfonie, die Oper, das Oratorium und das Lied eins geworden. Das Zorbas-Ballett ist die Synthese meines Werkes, weil es sich aus kretischer, griechischer und europäischer Musik – und hier vor allem in der Tradition von Stravinsky und Schostakowitsch – zusammensetzt.

Aufgrund Ihres politischen Engagements sind Sie – etwa 1945 im Bürgerkrieg auf Seiten der Linken – oftmals in Gefangenschaft gewesen und gefoltert worden. Welche Art der Folter ist Ihnen am stärksten in Erinnerung geblieben?

Meine Gefangenschaft 1947 auf Makronis, dieser berüchtigten Verbannungsinsel, war wohl die schlimmste Zeit meines Lebens. Es war eine Trockeninsel, es gab kein Wasser, wir waren völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Wenn man im Gefängnis sitzt, dann bekommt man so ein Gefühl, dass selbst die Mauern Zeugen werden für das, was passiert. Man denkt: Selbst wenn sie einen umbringen, irgend jemand wird es weitersagen, deine Frau und deine Mutter werden es erfahren. So als wäre das ein kleiner Trost. Der absolute Terror dagegen ist das Gefühl, dass sie dich umbringen und verscharren könnten, und keiner bekommt etwas mit. Dass man einfach spurlos von der Erdoberfläche verschwindet.

Was gibt einem die Kraft, das alles auszuhalten?

Hält man es aus?

Sie haben es ausgehalten und Sie befinden sich heute in einer erstaunlich guten Verfassung.

Ich glaube, das ist Zufall. Es hätte auch mich erwischen können, es hätte auch der andere überleben können.

Welche Rolle spielt die Religion in einer Situation, in der es um das Überleben geht?

Ich bin nicht gläubig. Und damals, da war man von allem verlassen, auch von der Religion. Wenn man nichts als seinen verwundeten Körper hat und voller Schmerz ist, kommt einem alles so seltsam vor: Religion, Kunst, Zivilisation. Das alles wird lächerlich. Denn der Schmerz ist das höchste, kolossalste Gefühl, zu dem der Mensch fähig ist.

Wie war Ihr Verhältnis zu Ihren Folterern? Sie sind kritischer Abstammung, und die Kreter sind bekannt für ein ausgeprägtes Rachegefühl.

Das Gefühl, dass man sich eimal rächen könnte, ist eine Hilfe. Oder besser gesagt, das Gefühl, dass Gerechtigkeit kommen wird. Wir Kreter können den Spruch der Juden sehr gut verstehen: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Aber dieses Rachegefühl hat man nur im ersten Moment, wenn man leidet. In diesem Augenblick zirkuliert das Blut immer schneller, man wird zum Tier und wünscht seinem Folterknecht die Hölle. Erst wenn die Qualen vorüber sind, werde ich ruhig und kann wieder Mensch sein. Dann bin ich auch bereit, meinem Folterer zu verzeihen und ihn sogar zu umarmen.

Kann man heute eigentlich noch so unbekümmert leben wie Zorbas, jene Figur, die durch die Musik von Theodorakis und die Verkörperung durch Anthony Quinn berühmt geworden ist?

Es gibt auch heute bestimmt noch so Typen wie Zorbas. Aber so etwas wird erst dann interessant, wenn so ein Typ etwas symbolisiert, das über ihn selbst hinausweist. Zorbas stellt so etwas wie ein verlorenes Sein des heutigen Menschen dar. Man kann ja nicht überleben, wenn man nicht daran glaubt, dass der Mensch auch Traum ist, Ideal und nicht nur ein rationales Wesen. Deshalb würde wohl jeder gerne so leben wie Zorbas, die Zivilisation hinter sich lassen, das Buch eintauschen gegen den Tanz. Jeder möchte einmal das frei äußern können, was er in sich trägt.

Sie haben einmal gesagt: Jeder Mensch hat einen inneren Riss, und nur der Zweifel treibt einen voran. Was ist dieser Riss im Menschen?

Die Existenz an sich ist die Wunde. Obwohl ich versuche, dieses Chaos mit Klängen zu füllen, mit Freunden, mit Familie, ist mir diese Gesetzmäßigkeit völlig unbegreiflich, die mich aus dem Nichts herausgeholt hat und wieder ins Nichts hineinwirft. Ich werde niemals den Sinn des Lebens begreifen. Weil ich ihn nicht begreife, habe ich auch vor dem Tod keine Angst. Ich bin sehr neugierig, was im Augenblick des Sterbens passieren wird.

Logisch betrachtet weiß ich, dass gar nichts passieren wird. Dass man einfach nur verschwindet. Aber ich habe die Hoffnung, dass ich vielleicht im letzten Moment meines Lebens begreife, warum diese ganze Geschichte passiert ist. Und ich hoffe natürlich auch, dass meine Musik der Zeit standhalten wird und dass sie empfindsamen Menschen dabei helfen kann, diesen Weg vom Nichts ins Nichts – das Leben – mit weniger Schmerz zu ertragen.

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© by Monsieur Farkas, 2016