Das Glück der Wiederholung

Eine Utopie des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq, der sich im Jahr 1999 vorstellt, wie es wäre, ewig zu leben – als Hermaphrodite, lustvoll, rauchend, nackt, auf allen Vieren, in einer Grotte wohnend. (Protokoll: Wolfgang Farkas)

Damit wir uns richtig verstehen: Das Leben ist nicht schlecht, so wie es ist. Immerhin haben wir uns einige Menschheitsträume erfüllt. Wir können fliegen. Wir können unter Wasser atmen. Und wir haben einige nützliche Haushaltsgeräte erfunden, etwa den Computer.

Die Schwierigkeiten beginnen mit dem menschlichen Körper. Das Gehirn zum Beispiel ist ein Organ de Luxe. Denn die Menschen sterben, ohne je die Fähigkeiten des Gehirns richtig ausgeschöpft zu haben. Doch nicht der Kopf ist zu groß – das Leben ist zu kurz. Wir altern schnell und zerfallen bald zu Staub. Und warum? Wir wissen es nicht einmal. Und selbst wenn wir es wüssten, würden wir uns kaum damit abfinden.

Es ist sehr einfach: Der Mensch will leben, aber er muss sterben. Deshalb ist sein größter Wunsch der Wunsch nach Unsterblichkeit. Natürlich kann sich niemand vorstellen, wie es wäre, ewig zu leben. Aber man kann davon träumen.

In meinem Traum vom ewigen Leben muss nicht viel passieren. Ich wohne vielleicht in einer Grotte. Ja, ich finde Grotten sympathisch. Es ist dort angenehm dunkel und kühl. Ich fühle mich sicher und geborgen. Schon oft habe ich gezweifelt, ob es seil dem Bestehen von Grotten wirklichen Fortschritt gegeben hat. Wahrend ich also ruhig da sitze, die Geräusche des Meeres höre und von freundlichen Wesen umgeben bin, fällt mir ein, was ich abschaffen möchte auf der Welt: Flöhe und Raubvögel. Geld und Arbeit. Und möglicherweise auch Pornofilme und den Glauben an Götter.

Irgendwann beschließe ich, mit dem Rauchen aufzuhören. Statt Zigaretten nehme ich lieber Pillen, die einen ähnlich stimulierenden Effekt auf mein Denken haben. Außerdem steht mir eine große Auswahl synthetischer Drogen zur Verfügung. Jede dieser Drogen erweitern die Wahrnehmung. Auf diese Weise kann ich Ultraschall hören und ultraviolettes Licht sehen – und noch einige Dinge mehr, von denen ich jetzt noch nichts weiß.

Ich sehe übrigens ein bisschen anders aus als früher. Nicht nur jünger, ich bin auch anders gebaut. Ich habe jetzt vier Beine, das ist fantastisch. Ich stehe viel besser. Ich stehe fest auf der Erde, und selbst wenn ich zu viel trinke, habe ich keine Angst, umzufallen. Überhaupt wirft mich im Gegensatz zu den früheren Menschen, den Kängurus oder den Pinguinen, nichts mehr so leicht um. Noch etwas ist anders: Ich brauche keine Kleidung mehr. Kleidung ist lästig. Egal, wie sie aussieht. Sie behindert die Atmung meiner Haut. Nackt fühle ich mich freier.

Und das Wichtigste: Ich bin weder männlich noch weiblich, ich hin beides – ein Hermaphrodit. Früher konnte ich nur ahnen, wie es sich anfühlt, wenn jemand in mich eindränge, denn ich war nicht homosexuell. Jetzt kann ich es spüren. Das ist eine grundsätzliche Erfahrung. Ich habe lange darauf gewartet.

Ich habe keine Wünsche mehr. Einige Leser werden sich jetzt vielleicht fragen, ob das Leben selbst in der schönsten Grotte und mit den attraktivsten Mitbewohnern nicht doch irgendwann langweilig sein wird – nach tausend oder zehntausend oder von mir aus hunderttausend Jahren.

Nein, das glaube ich nicht. Zumindest nicht für mich. Ich fände es nicht einmal langweilig, bis in alle Ewigkeit genau dasselbe zu tun, wenn ich es gerne tue.

Ich gehe sogar noch weiter und sage: Das einzig wahre Glück liegt in der Wiederholung. In der monotonen Wiederkehr des Immergleichen. So ist es beim Tanz, wenn ich einen Schritt beherrsche und einfach nur immer weiter tanzen möchte. So ist es in der Musik, bei einem Stück wie Autobahn von Kraftwerk. Und so ähnlich ist es auch beim Sex: Wenn es vorbei ist, will ich es bald wieder tun.
Das Glück ist also eine Sucht. Eine Sucht, die genauso auf einen chemischen Stoff zielen kann wie auf einen Menschen. Und wenn ich meinen Stoff oder meinen Menschen gefunden habe, brauche ich nichts anderes mehr.

Wirklich langweilig ist nur die Abwechslung, das täglich Neue: die neuen Produkte, die neuen Meldungen – eben das, was angeblich so aufregend sein soll.

Ich habe also das Glück gefunden. In meiner Grotte fehlt mir nichts. Wenn ich Lust habe, kann ich baden. Draußen ist es hell und sonnig. Ich denke kurz an Deutschland, wo die Menschen dicht gedrängt auf engstem Raum gelebt haben. Und ich bin froh, dass es im Paradies keine Überbevölkerung gibt. Die Menschen dürfen ihren Wohnort frei wählen. Sie fahren Auto, so viel sie wollen.

Ich reibe mir die Augen und stelle fest, dass mein Traum doch sehr flüchtig ist. Ich zünde mir eine neue Zigarette an. Ich beiße auf dem Filter herum. In Wirklichkeit gibt es für mich keine Harmonie mit dem Universum.

Wenn ich einen Moment der Freude empfinde, zum Beispiel beim Betrachten einer Landschaft, weiß ich gleichzeitig, dass ich nicht Teil dieser Landschaft bin. Die Welt ist mir fremd. Ich kenne keinen Ort, an dem ich mich zu Hause fühle. Auch Gott kann die Widersprüche nicht auflösen. Ich glaube nicht an Gott. Gott Ist nicht notwendig, weder hier noch im Paradies. Ich glaube an die Liebe. Sie ist das Einzige, was wir haben. Sie ist viel besser als ein Fitnessprogramm. Sie ist besser als Sport.

Vielleicht wird mein Traum vom ewigen Leben irgendwann Wirklichkeit. So oder so ähnlich. Ich bin dann ein Wesen mit Beinen oder Flügeln oder Tentakeln. Vielleicht werde ich es selbst nicht erleben. Doch anders als die meisten Menschen habe ich kaum Angst vor dem Tod. Mit dem Älterwerden entdecke ich langsam meine Jugend wieder, an die ich mich lange Zeit nicht erinnern konnte. Und wenn es mir manchmal sehr schlecht geht, finde ich Trost in meiner Arbeit. Meine Bücher verleihen mir schon jetzt eine gewisse Art von Unsterblichkeit.

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© by Monsieur Farkas, 2016

Frankfurt, 1999. Houellebecq gilt als Lethargiker. Und es stimmt: In dem Gespräch mit ihm vergehen Minuten, ehe er ein Wort sagt.  Das Treffen findet in der Diskothek U 60311 statt, wo er soeben gelesen hat; er raucht pausenlos. Sein Aussehen scheint ihm egal zu sein. Er rauft sich die Haare, bis sie wirr abstehen. Deshalb hat seine Frau oder Freundin oder Begleiterin, die sich als Blondine inszeniert und Marie-Pierre heißt, immer eine Schere dabei, wenn sie mit ihm unterwegs ist. Sie sagt: »Wenn es mir zuviel wird, schneide ich sie ihm einfach ab.«