Gedichte können die Welt nicht retten

Was vermag schon ein Gedicht? Eindrücke vom Poesiefestival in Medellín, Kolumbien, im Jahr 1996. – Oberes Bild: Namenloser Leser in der Stadt des ewigen Frühlings, vor dem vergitterten Eingang eines Erotik-Shops sitzend.

Das Gefängnis von Medellín ist ein dreckiges Loch. Auf den Fußböden liegen verschrumpelte Kartoffeln und Bananenschalen verstreut. Die Zellen sind überfüllt. Wachmänner mit leuchtend weißen Knüppeln gehen gelangweilt die stickigen Gänge auf und ab.

In Bellavista, wie die Vollzugsanstalt heißt, müssen knapp fünftausend Gefangene ihre Strafen absitzen, darunter Kleinkriminelle, Guerrilleros, Gewerkschafter – oder einfach nur Hitzköpfe wie Edmundo, der aus Eifersucht das Haus seiner Freundin angezündet hat. An diesem strahlenden Sonntag versammeln sich einige hundert Häftlinge in der Knastkapelle. Nicht aber, um zu beten, sondern um Gedichten zu lauschen.

Ob Gefängnis, botanischer Garten oder Planetarium, die Schauplätze poetischer Fluchten könnten kaum unterschiedlicher sein. Und von Mal zu Mal sind es mehr Menschen, die sich vom jährlich stattfindenden Internationalen Poesiefestival in Medellín angezogen fühlen; Menschen, die bisweilen geradezu verrückt nach Gedichten zu sein scheinen.

Fernando Rendón, ein schnurrbärtiger Mann mit schneller Zunge, verweist auf die reiche literarische Tradition Medellíns. Zudem sei Poesie eine natürliche Reaktion auf die sprichwörtliche Gewalt in Kolumbien. Das allein aber kann es nicht sein. Denn nicht nur in Kolumbien, in ganz Lateinamerika gibt es seit einigen Jahren einen regelrechten Lyrik-Boom.

Mittlerweile finden auf dem ganzen Kontinent, von Mexiko bis Chile, regelmäßig Festivals statt; allerorts werden kleine, ambitionierte Literaturzeitschriften gegründet; und im Gefolge der großen lateinamerikanischen Lyriker wie Octavio Paz oder Pablo Neruda begibt sich die weit verstreute Dichtergeneration von heute auf die Suche nach neuen Werten und Worten.

Gedichte können die Welt nicht retten – aber sie helfen, der Gleichgültigkeit zu widerstehen

»Poesie ist mehr als ein literarisches Genre», sagt Fernando Rendón, der auch selbst Gedichte schreibt. Zur Zeit gebe es zwar kaum einen Grund, auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Poesie aber könne, so meint er, den Glauben an das Leben stärken. »Wenn man manchmal das Gefühl hat, dass alles verloren ist, gibt einem die Poesie den Sinn zurück.« Und er fügt hinzu: »Gedichte können die Welt nicht retten. Aber Gedichte können helfen, der Gleichgültigkeit in der Welt zu widerstehen.«

Ob das wirklich der Grund ist, warum mehrere tausend meist jugendliche Zuhörer etwa in das Freilufttheater Carlos Vieco strömen, um einer Lesung von mehr oder weniger unbekannten Schriftstellern beizuwohnen – gerade so, als wäre es ein Popkonzert? Und überhaupt: Was vermag schon ein Gedicht ausrichten gegen die kleinen Katastrophen und großen Nöte?

Der Gefängnispfarrer eröffnet die Lesung

In der Kapelle warten schon alle. »Es sind unser aller Herzen, die uns miteinander verbinden!«, ruft der Gefängnispfarrer ins Mikrofon; dann kündigt er die Dichter an, darunter Lindolf Bell aus Brasilien, Benjamin Zephania aus Großbritannien, Abdulah Sidran aus Bosnien und Daniel Jímenez aus Kolumbien.

Die Häftlinge auf den steinernen Sitzbänken applaudieren: Und sind sogleich wieder still. Einige rauchen. Die meisten schauen konzentriert auf das Podium, wo gerade ein guatemaltekischer Autor Vogelgesänge imitiert. In einem Gedicht von ihm heißt es später:

Dies Nest füllte sich mit einem Traum
Der Vogel kam nicht wieder
Und die Sterne glänzten
ohne zu lärmen

Weniger beschaulich, dafür umso eindringlicher die Verse des Gedichts »Planet Sarajevo« des bosnischen Poeten Sidran:

300 Tage Krieg
Krieg ohne Seele und Augen
Kinder pflücken mit Händen, die sie nicht mehr haben
Blumen, die es nicht mehr gibt.

Die Lesung gefällt. Sogar von den Sicherheitskräften kommt zögerlicher Beifall, als nun der junge Kolumbianer Daniel Jimenez eine Kostprobe seiner Werke gibt.

Liebe: ein Blitz
der dir von einem Moment
auf den anderen
erlaubt
die Dinge mit neuen Augen
also in ihrem wahren Licht
zu sehen

Dann springt der Rastafari Benjamin Zephaniah leichtfüssig auf die Empore. In rhythmischem Sprechgesang erzählt er tragische und komische Geschichten von Unterdrückung und Freiheit. Am Schluss fordert er unter Zugaberufen Privilegien – für alle.

Weil Politiker in der ganzen Welt, so Zephaniah, den Bezug zur Realität verloren hätten, müssten nun Poeten deren Rolle übernehmen. Und so ist Zephaniah nicht nur vom Auftritt in Bellavista beeindruckt; ihn fasziniert die allgemein verbreitete Leidenschaft, mit der hier Gedichte aufgenommen werden. Eine Lesung wie an jenem kühlen verregneten Abend im Parque de Periodistas zum Beispiel wäre in einer europäischen Stadt unvorstellbar. »Vergiss es, würde man bei uns sagen, bei dem Wetter geh’ ich nach Hause und schau’ Fernsehen.«

In Medellín wird Poesie auch »das andere Feuer» genannt. Den Leuten der 2,5-Millionen-Metropole ist es ziemlich egal, wenn ihre kurzärmligen Hemden und Kleider nach der Lesung wie eine zweite feindliche Haut an ihren Körpern kleben werden. Viel zu gerne lassen sie sich von den Wortkaskaden mitreissen und entdecken dabei Verse, in die die ganze Welt zu passen scheint.

Diese Passion scheint es zu sein, die die Augen von Angela García strahlen lässt. Zusammen mit Fernando Rendon leitet sie das »Festival de Poesía«. Poesie sei vor allem ein sinnlicher Akt, sagt sie, »alles, was Glanz, Spiel, Lachen, Mysterium ist.« Die höchste poetische Kunst bestehe darin, empfindsam zu sein für die Schönheit der einfachen Dinge.

Oder wie es einmal der kubanische Revolutionär Jose Martí formuliert hat: »Poesie macht den Menschen nicht satt. Aber sie macht Lust darauf zu essen.«

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Angela García und Fernando Rendón (Foto oben) hatten 1991, kurz nach der Gründung ihrer Literaturzeitschrift Prometeo, mit befreundeten Dichtern zunächst nur einen Tag der Poesie organisiert. Völlig überraschend waren etwa viertausend Menschen gekommen. Seitdem wird das Festival, wenn auch bescheiden, von der Stadt gefördert, und es wächst beständig: dieses Jahr besuchten schätzungsweise dreißigtausend Menschen die Lesungen, mehr als vierzig Poeten stellten sich dem Publikum. »Die wahren Poeten«, sagt Angela García, »haben eben kein nach innen gerichtetes Werk. Sie suchen den Weg zum Du.«

Poesie – die Verbindung von Denken und Fühlen

Europäern mag dieses Verständnis von Literatur fremd erscheinen, allein das Wort Poesie klingt eher nach Kitsch als nach Kultur. Denn das Fühlen, so der in München lebende Schriftsteller und Übersetzer Curt Meyer-Clason, ist in Europa vom Denken getrennt. Lateinamerika dagegen habe sich etwas bewahrt, was man »Fühldenken« nennen könne. Statt »Cogito, ergo sum«, so Meyer-Clason, heiße die Maxime in Lateinamerika »Canto, ergo sum«.

Es sei wirklich unglaublich, meint denn auch Benjamin Zephaniah, dass es gerade einem armen Land wie Kolumbien gelänge, so einen Haufen Poeten zusammenzutrommeln. »Poesie bedeutet hier, auf den Straßen und öffentlichen Plätzen das Leben zu besingen.« In England sei es das genaue Gegenteil: da habe die Queen einen Privatdichter angestellt, und wenn der einmal ein Gedicht schreibe, müssten es alle gut finden.

In Medellín, der Stadt des ewigen Frühlings und der gigantischen Verrücktheiten, des vibrierenden Verkehrs und der grotesken Armut, pulsiert aber nicht nur das Leben. In einer gewöhnlichen Freitagnacht wie der vorletzten starben fünfunddreißig Menschen auf gewaltsame Weise. Nicht zuletzt die ständige Präsenz des Todes ist es wohl, die den Menschen jeden Augenblick kostbar erscheinen – und ihn umso intensiver leben lässt.

Nach einer Woche des poetischen Rausches treten die ersten Schriftsteller die Heimreise an. Auf dem Weg zum weit außerhalb der Stadt liegenden Flughafens werden sie von einer der üblichen Militärpatrouillen gestoppt. Mit erhobenen Händen müssen sie sich vor den Bus stellen, werden von den Soldaten abgetastet. Dann gibt man ihnen das Zeichen zur Weiterfahrt.
»Die Waffen der Dichter«, sagt Fernando Rendón, »werden sie nicht finden.«

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© by Monsieur Farkas, 2016