Korallen

Er liegt in der dampfenden Badewanne und überlegt kühl, was er aus seinem Leben bisher gemacht hat. Morde: null. Überfälle: keine. Bußgeldbescheide: mehr als dreißig. Beziehungen: vier. Affären: weniger als vierzig. Gelesene Bücher: zweitausend. Nicht gelesene Bücher: zwei Milliarden.

Mit den Zahlen, denkt er, kommst du nicht weiter.

Da kommst du höchstens schlecht weg, denkt er, du musst ein anderes Kriterium finden, um Bilanz zu ziehen. Mit 25 sollte man doch Bilanz ziehen. Erst 25 oder schon 25, überlegt er, und fühlt sich eigentlich jung genug, um  noch alles zu tun, was man eben tun kann.

Nur: Karriere als Balletttänzer, Bankkaufmann oder Bäcker; mit 14 in New York ein romantisches Gedicht schreiben; mit 21 den Gräsern von unten beim Wachsen zuhören – ein für alle mal gelaufen.

Es sei denn, man könnte den Zeitpfeil umdrehen. Das wäre lustig: wir würden jeden Tag jünger, die Bäume gesünder und die Familien wieder kompletter werden.

Irgendwann wären wir auch in den 70ern und könnten uns mit unseren Lieblingsdichtern im Sandkasten betrinken (Christian Kracht) oder im Freizeitheim eine Clique gründen (Matthias Politicky) – und hätten außerdem die Chance, das endlos gehypte Jahrzehnt auch in den Bereichen Sozialdemokratie (John Travolta), Real-Life- Entertainment (Andreas Baader) und Clubwear (Herbert Wehner) noch mal aus der Nähe zu studieren.

Aber der Zeitpfeil ist eine Sau. Lässt sich nicht rumkriegen. Niemals! Forget it, man. Lauter neue Dinge – sind es noch Dinge? –, drängen schnell und schneller nach vorne, auch zu dir, immer weiter, immer schon mit dem Kopf im nächsten Jahrtausend.

Das nächste Jahrtausend ist immer das schwerste.

In der Wanne wird es langsam kalt, seine Lebensbilanz ist längst vergessen, und er spielt die Weihnachtstage durch.

»Närrische Tage«, murmelt er vor sich hin. Aber auf die Clubs freut er sich. Da sind die Leute an Weihnachten angenehm aufgekratzt, es ist feierlich und nicht so voll, weil die Meute beim Skifahren ist oder am Strand liegt.

Während er aus der Wanne steigt, springt sie, ein paar Häuserblocks weiter, nur kurz unter die Dusche, stellt auf kalt, macht »huah« und bereitet sich auf den Abend vor.

In einer halben Stunde wird sie ihn zum ersten Mal sehen, auf einer Party, Small Talk wie mit jedem anderen auch.

Aber schon ein halbes Jahr später springen sie zusammen ins Meer, geben sich Unterwasserküsse, hören sogar die Korallen lachen.

Und statt »Ich liebe dich« sagen sie manchmal nur: »Ich kenne Sie nicht!«

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© by Monsieur Farkas, 2016