Keine Heimat

Warum ich mich nie richtig als Deutscher gefühlt habe, aber zum Beispiel auch kein Gastarbeiterkind bin – kleine autobiographische Skizze zur Frage nach der eigenen Herkunft.

Plötzlich ist noch so viel zu tun vor der Abfahrt. Behördenbriefe beantworten. Das Bad putzen. Den Roman fertig schreiben. Alle möglichen Dinge sortieren, als gäbe es keine Wiederkehr. Und dann – sieht alles so gut aus auf einmal in der eigenen Wohnung, dass sofort der Wunsch aufblitzt: Ach, könnte ich doch einfach. Wie schön es doch wäre, einfach hier zu bleiben.

Aber das geht nicht. Es gibt feste Verabredungen. Treffen mit meinen Eltern in München. Thema Erbschaft. Wie soll das gehen. Drei Kinder. Wer soll was einmal bekommen. In einem, in zwei, in fünf, in zehn Jahren, morgen. Kurzbesuch bei den Eltern also.

Dann, einen Tag später, Lesung in Essen. Daughters and Sons of Gastarbeiters. Ich bin dabei. Zum ersten Mal. Wow! Ich werde auf einer Bühne sein, und das Publikum wird mir zuhören, wenn alles gut geht. Ich war bislang vielleicht Moderator, Ansager, Ankündiger, Aber selbst gelesen habe ich noch nie – sieht man einmal von einigen waghalsigen Auftritten als spätpubertierender Dichter ab.

Ich bin nun gar kein Gastarbeiterkind. Und auch als Deutscher habe ich mich nie richtig gefühlt. Never. Ever. Als würde ich zwischen zwei Stühlen sitzen – nur dass es diese Stühle gar nicht gibt.

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1
Der Kleine rechts unten, sitzend, im dunklen Anzug ist mein Großvater. Geboren wurde László Farkas 1911 in dem ungarischen Dorf Mucsi, in der Nähe von Pécs. Er war ein Sänger. Wenn jemand von Herzen gerne singen will und kann, der muss ein Sänger werden, sagte mein Großvater. Wir singen ja gar nicht, so sagte er auch; wir dehnen, wir ziehen, wir schlagen, wir schmeicheln. In Budapest lernte er seine spätere Frau Maria kennen. Mit ihr verließt er 1944 die Stadt. Über Nacht. Fluchtartig. Ohne noch einmal Behördenbriefe zu beantworten. Oder das Bad zu putzen.

2
Die beiden, ein junges frisch verliebtes Paar, packten alles, was sie für wichtig erachteten, in zwei Koffer. Darunter eine Stange Zigaretten, falls sie jemanden bestechen mussten. Sie hatten panische Angst. Sie fürchteten um ihr Leben. Sie war Schönheitskönigin gewesen in ihrem Dorf, in ihrer frühen Jugend. Mit dem Zug gelangten sie nach Wien, wo sie von deutscher Polizei gestellt wurden. Und wollten weiter nach Erfurt, zu einem Onkel. Der Wunsch wurde ihnen gewährt. Und so kamen sie nach Deutschland, noch vor Ende des Kriegs, und begannen ihr neues Leben. Bei Telefunken, als Zwangsarbeiter. Der ungarische Sänger und seine Geliebte; die Schönheitskönigin und ihr ungarischer Geliebter. Die beiden würden ihr ganzes Leben zusammen verbringen, bis der Tod sie scheiden würde.

Sie würden sich auch streiten und darin immer besser werden. Ein immer besser eingespieltes Paar. Sie würde, bis ans Ende ihrer Tage, in der Lilienstaße in München wohnen, die Artikel im Deutschen falsch verwenden, und er würde sie, bis ans Ende ihrer Tage, korrigieren. Und ja, sie würden auch ein Kind haben. Und noch eins. Und noch eins. Macht drei.

 

3
Der Älteste war ein Sohn.

Wenn jemand als Letzter durch eine Drehtür geht, so heißt es, und als Erster wieder herauskommt, ist es wohl ein Ungar. Doch schon mein Vater war kein richtiger Ungar mehr. Und auch noch kein richtiger Deutscher.

Er war der Sohn heimatloser Ausländer. So lautete der Begriff. Seine heimatlosen Eltern also, sie waren rechtlich gleichgestellt mit den frisch entnazifizierten Deutschen, bis dann auch sie irgendwann, zwanzig Jahre später, offiziell Deutsche wurden.

Und mein Vater, er sollte berüchtigt werden im weiteren Verlauf seines Lebens. Aus Johannes wurde Joe. Der Abenteuer-Joe. Oft unterwegs. Gut gelaunt. Auf dem Sprung. Vielleicht sogar auf der Flucht, wenn auf ohne sichtbare Verfolger.

Und in jungen Jahren wollte er einerseits so gerne deutsch sein, und gleichzeitig ein bisschen anders als die ganz normalen Deutschen. Irgendwie ein bisschen anders. Aber auf keinen Fall Ausländer. Auf keinen Fall Türke. Auf keinen Fall Italiener. Auf keinen Fall Ungar.

 

4
Und Joe und seine bayerische Geliebte Renate aus dem schönen München lernten sich kennen in der Hauptniederlassung der Staatsbank, vermutlich, nachdem er nach ihr durch eine Drehtür gegangen und vor ihr wieder herausgekommen war, und sie lernten sich ein bisschen mehr kennen und lieben mitten in den aufgeheizten Tagen der Studentenrevolte, von denen sie vor lauter Staatsbank und Liebe nicht viel mitbekamen, und alles ging so schnell, obwohl es noch längst kein Facebook gab und noch nicht mal ordentlich Telefon, dass bald, ganz bald, ausgerechnet ich auf die Welt kam. Und bald auch meine Schwester. Und wir wurden eine ganz normale, richtige Familie, von der jeder Beteiligte immer wieder einmal denkt: diese Wahnsinn kann es nur bei uns geben.

Die Mama mit den Kindern, der Vater auf der Arbeit. Und ja, irgendwie waren wir auch deutsch, wenn auch mit Nachnamen Farkas, der im Original Forkosch gesprochen wird. Wir aber sagten immer: F-a-r-k-a-s, so wie man’s spricht. Und die Bayern sprachen das aber ein bisschen schlampig und leicht vulgär: Fa-kasch. Und meine Großeltern sagten stolz und originalgetreu: Forkosch. Und alle hatten sie irgendwo recht.

5
Die Zeit flog weiter. Fliegen, das kann sie, das hat sie gelernt.

Nur meine Großeltern, samt Wohnzimmer und samt Sofa, trotzten scheinbar den Zeiten. Drei, vier verschiedene Sofas mag es im Laufe von fünfzig Jahren gegeben haben, aber letztlich war es immer das Sofa, das da stand und kein einziges Mal in Brand geraten oder sonstwie auf dumme Gedanken gekommen wäre. Es gab höchstens Flecken und Abriebe im Laufe von fünzih Jahren, und wenn die Flecken und Abriebe überhand genommen hatten, wurde es gegen ein neues ausgetauscht und stolz betrachtet.

Einmal hatte mein Großvater einen Herzinfarkt. Der Notarzt kam. Kommen Sie, sagte der Notarzt. Moment, sagte mein Großvater. Es war mitten in der Nacht. Mein Großvater, im Schlafanzug, zog sich, stilbewusst, wie er war, seinen dunkelgrauen Mantel über, setzte seinen Hut auf, um dann erst mit dem Arzt die Treppe hinunterzusteigen.

Neunzig Jahre nach der Geburt des Großvaters hatte sich, auf vier Generationen verteil,  die Zahl der Lászlós in der Familie inzwischen vervierfacht . Auch ich hatte inzwischen einen kleinen Sohn, der László hieß. Einmal gelang es sogar, alle vier Lászlós auf dem immergrünen Sofa zu versammeln.

 

6
Die eigene Herkunft also.

Doch nicht nur, wenn man aus verschiedenen Ländern kommt – zwischen Stühlen sitzend, die es gar nicht gibt – verwischt sich die Bedeutung nationaler Zugehörigkeit. Wie soll auch eine Nation eine Heimat bieten – wenn das schon kaum einem Sofa gelingt? Vielleicht vermögen dies nur meine heimlichen Geliebten, die Sprache; die Schrift.

Jeder Mensch hat ein eigenwilliges Netz von Orten, die so vertraut sind, dass unmittelbar ein Gefühl von Zuhausesein aufkommt (ohne, dass man es gleich merkt). Der Malécon, die Hafenmauer von Havanna. Ein stillgelegter Bahndamm in Johanneskirchen in München. Malmousque, der Stadtstrand von Marseille, gleich neben dem Stützpunkt der Fremdenlegion. Der erste Stock in der Blumenstraße Nummer drei.

Heimat ist flüchtig und ein Entwurf. Und bedarf, wenn man sie sich als etwas Bewohnbares vorstellt, eines Ausgangs, einer Tür, durch die man sie wieder verlassen kann.

Textbar_Herkunft_Maria_und_Laszlo_by_MF tuned

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Zwei der traurigsten, zugleich wundersamsten Geschichten, die ich kenne, handeln vom Tod meiner Großeltern. Vom Tod von Maria, der großen Köchin. Gelegenheitspianistin, Flickerin, Näherin und einstigen Schönheitskönigin. Der Ich-streck-mein-ganzes-Leben-lang-meinen-Kopf-aus-dem-Fenster-oder-in-den-Ofen-um-zu-rauchen-damit-mein-Mann-es-nicht-merkt-aber-er-merkt’’s-eben-doch. Sie starb 2003. In den Tagen vor ihrem Tod wollte sie nichts mehr essen. Und an ihrem letzten Tag ihres Lebens hatte sie doch noch Hunger bekommen. Obwohl Ungarin, die sie eigentlich war, bat sie in der Klinik, in der sie lag, dann doch um eine Weißwurst. Es gab keine. Ihr letzter Wunsch blieb unerfüllt.

Nach der Trauerfeier, als die Familie sich versammelt hatte, saßen alle am Tisch. Leichenschmaus, sagt man in Bayern. Alle bestellten, dies und jenes, und mein Vater, der gerrne von dem abweicht, was andere so tun, bestellte sich seltsamerweise ausgerechnet eine Weißwurst. Sie wurde in einer Porzellanschüssel serviert, auf der sich ein Porzellandeckel befand. Er hob den Deckel – und war in höchstem Maße irritiert. Seine halbungarische Stirn legte sich in Falten. Tatsächlich befand sich in der Schüssel nichts. Einfach – nichts. Nur heißes Wasser.

Deine Weißwurst, sagte ich, als ich das sah, deine Weißwurst – die hat sich die Maria dann doch noch geschnappt.

8
Wenige Jahre später, 2006, starb auch der Großvater. Irgendwann nach dem Tod seiner Frau wurde er verpflanzt. Obwohl man nicht mal einen alten Baum verpflanzen tut. In eine andere Wohnung. Die sich im Erdgeschoss befand. Am Stadtrand. Mit Klavier. Und täglichem Besuch eines Pflegers. Und so ist er allmählich vertrocknet.

Auch er, der sein Leben lang, mit göttlichem Appetit, alles verspeiste, was ihm in die Finger kam, wollte nichts mehr essen. Er kam zum ich-weiß-nicht-wievielen-Mal-in-seinem-Leben ins Krankenhaus.  Er war 95 Jahre alt – er, der schon mit dreißig immer gedacht hatte: Lange werde ich’s nicht mehr machen.
Mein Vater, der Drehtüren-Dreiviertel-Ungar, war einer der letzten gewesen, die ihn in der Klinik besucht und noch einmal gesehen hatten.

9
Ich selbst lebte da schon in Berlin. Auf einem anderen Planeten. War viel zu weit weg von meinem geliebten Großvater, als dieser starb. Und war gerade zum zweiten Mal Vater geworden. Diesen meinen zweiten Sohn nannten wir anfangs Captain One Eye. Denn er wollte die Welt anfangs nur durch ein Auge betrachten. Das andere blieb vorläufig zu.

Mein Vater nun, beim letzten Besuch bei meinem Großvater, hatte zumindest ein Foto vom drei Wochen alten Enkelsohn, von Captain One Eye, bei sich. Auf dem Handy. Und zeigte es ihm. Und seltsamerweise hatte auch der Großvater in der Klinik zu dem Zeitpunkt nur ein Auge geöffnet. Das andere war bereits für immer geschlossen.

Ich glaube nicht, dass das schon Heimat ist: Wenn einer, kurz bevor er seinen letzten Atemzug tut, mit seinem verbliebenen offenen Auge in ein einsames anderes offene Auge auf einem Handyscreen schaut und für einen Moment spürt, dass das eine besondere Verbindung ist.

Nach ein paar Tagen jedenfalls, nachdem der Großvater nun auch sein zweites Auge geschlossen hatte, hatte der Enkelsohn nun auch sein zweites Auge aufgemacht. Und niemand hätte sagen können, wann und wie er das angestellt hat; niemand hat es ihm gezeigt.

Es war einfach offen.

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© by Monsieur Farkas, 2016