
Ein Gespräch mit der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy im Jahr 2001, kurz nach dem 11. September, über das eigene Ende und rettende Melodien, autobiographisches Schreiben, den Islam, die Anschläge in New York und den Teufel.
Am Anfang Ihrer autobiographischen Erzählung »Stierkampf« sitzt eine Frau am Fenster, die bereit ist zu springen. Diese Frau heißt Alison Kennedy. Welches Gefühl hatten Sie in Erwartung Ihres eigenen Todes?
Ein friedliches Gefühl. Ich hatte vergessen, was Zeit ist. Dann kam ein Punkt, an dem jeder Gedanke ausgeschaltet war.
Was hat Ihr Leben gerettet?
Eine Melodie, die auf einmal irgendwo von der Straße herkam. Es war die Melodie eines schottischen Volksliedes mit dem Titel »Mhairis Wedding«. Erst diese Musik hat mir bewusst gemacht, dass ich überhaupt existiere. Mit diesem fürchterlichen Lied im Ohr wollte ich auf keinen Fall meine letzten Momente erleben.
Am Ende des Buchs, nachdem die Erzählerin durch Spanien gereist ist, heißt es: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Wissen Sie es jetzt?
Es wäre vielleicht schön zu wissen, aber nein, leider weiß ich es nicht. Und insofern ist mir auch meine Karriere als Schriftstellerin mehr widerfahren als dass ich sie gewollt hätte. Es gibt keine Pläne in meinem Leben.
Das klingt ein bisschen traurig.
So ist es eben.
Vielleicht ist es aber auch hohe Lebenskunst.
Es fühlt sich nicht besonders gut an. Trotzdem gibt es schöne Tage.
Schreiben hilft?
Schreiben ist nicht unerfreulich. Allerdings habe ich seit einiger Zeit chronische Rückenschmerzen und kann mich deshalb nicht an meinen Tisch setzen. Ich liege auf einem Bett, die Tastatur des Computers über mir; so arbeite ich.
Wie wurden Sie Schriftstellerin?
Zunächst schrieb ich nur für mich selbst, um mich abzulenken oder mich zu amüsieren. Dazu kam, dass ich keine richtige Arbeit hatte. Ich ging damals, nach meinem Studium, von Tür zu Tür und verkaufte Bürsten und Rasierklingen. Mir war klar, dass ich eigentlich nichts richtig kann.
Was heißt das?
Ich habe keine Fähigkeiten. Ich kann kein Haus bauen. Ich kann nichts herstellen. Ich könnte höchstens eine Hausfrau sein und kochen. Das vielleicht. Dann müsste ich aber einen Anwalt oder so heiraten. Bekannte rieten mir, ich sollte meine Texte veröffentlichen, und so passierte es.
Also doch eine Fähigkeit.
Es ist eben das, was ich immer schon gemacht habe. Schon als Kind habe ich mir am liebsten Geschichten ausgedacht. Doch normalerweise ist das, was man als Kind macht, nicht als Beruf geeignet. Niemand käme auf die Idee, sein Geld damit zu verdienen, dass er vor sich hin pfeift oder auf Bäume klettert.
Wie geht es Ihnen jetzt beim Schreiben?
Jetzt bin ich unheilbar. Schreiben ruiniert dich.
Sie sehen nicht aus wie jemand, der ruiniert ist.
(lacht) Haben Sie eine Ahnung. In meinem Inneren sieht es schrecklich aus.
In Ihren Büchern spielt religiöser Glaube eine wichtige Rolle. Haben Sie eine Vorstellung von Gott?
Manchmal stelle ich mir vor, Gott sei ein Mann, Mitte fünfzig,der einen Leinenanzug trägt, Zigarre raucht und lächelt. Ich weiß nicht, wie ich darauf komme. Natürlich kann es kein Bild geben. Gott sieht so aus, wie immer man mag.
In welcher Form üben Sie Ihren Glauben aus?
Ich gehe oft zu Versammlungen der Quäker. Dort wird meistens nur geschwiegen. Man sitzt einfach da und wartet auf einen Moment der Inspiration. Das ist dem Schreiben sehr ähnlich. Es ist aber auch eine Kirche, in der politische Themen wichtig sind. Bei den Quäkern gibt es eine lange Tradition, sich mit Menschen zu solidarisieren, die zu schwach sind, sich selbst zu wehren, oder mit Menschen, die sonst kaum jemand mag.Früher waren das Sklaven. Heute sind es Ausländer.
Sie finden es wichtig, religiöses und politisches Bewusstsein zu verbinden?
Sicher. Was nützt es, wenn jemand nur sonntags für zwei Stunden ein netter Mensch ist? Man sollte doch versuchen, immer ein einigermaßen netter Mensch zu sein, und zwar egal, ob man eine Kirche betritt oder nicht.
Was denken Sie über den Islam?
Sympathisch. Auch wenn viele denken, es gehe dabei nur um Verrückte, die andere in die Luft jagen wollen. Das ist falsch. Genau so wenig handelt das Christentum davon, Frauen zu verbrennen.
Was gefällt Ihnen am Islam?
Zum Beispiel die Vorstellung, dass jeder Mensch ein Licht in sich trägt. Und dass jeder ein Teil eines Ganzen ist. Dass wir also alle nur winzige Fragmente sind. Dem Islam zufolge ist außerdem Gastfreundschaft ein wichtiges Prinzip. Umso bedauerlicher ist es, dass im Namen des Islam Frauen brutal unterdrückt werden. Es müsste nicht notwendigerweise eine chauvinistische Religion sein.
Wie haben Sie von den Anschlägen in New York erfahren?
Ich war gerade in einem Supermarkt und wollte Bezüge für Kopfkissen kaufen. Der Laden war leer. Kein Personal. Niemand. Dann entdeckte ich, wie alle in der Elektro-Abteilung standen und sich vor den Fernsehschirmen versammelt hatten. Überall auf den riesigen neuen Bildschirmen sah man die Explosionen.
Hat sich ihr Leben seitdem verändert?
Mein alltägliches Leben – nein. Was mich beunruhigt, ist die öffentliche Meinung, insbesondere in den USA. Ich habe den Eindruck, die Menschen dort sind kaum informiert, was auf der Welt passiert. Stattdessen ist die gesamte Kultur auf ein Happy End ausgerichtet: wenn du genügend Vitamine zu dir nimmst und deine Gymnastikübungen machst, lebst du ewig. Mach dir keine Gedanken über den Tod, du brauchst nur mehr Dinge. Wenn nun die Kultur so ausgerichtet ist, dass netten Menschen immer nur nette Dinge passieren und es für alles eine Lösung gibt, muss die Realität umso härter erscheinen. Also flüchtet man davor. Aber das ist nicht immer möglich.
Haben Sie Angst?
Nicht sehr. Es könnte ja auch so jeden Tag ein Unglück passieren. In unmittelbarer Nähe von Glasgow, wo ich lebe, gibt es einen Atomwaffenstützpunkt. Die Kontrollen sind erschreckend lasch. Touristen verirren sich manchmal in dieses Gebiet, und keiner sagt ihnen, wo sie sich befinden. Eine Terroristin, als Lady verkleidet, hätte ein leichtes Spiel, wollte sie den Stützpunkt angreifen.
Können Sie die Mentalität eines Selbstmordattentäters nachvollziehen?
Es ist nachvollziehbar, warum nicht. Ich nehme an, es sind Menschen, die mit entsprechenden Idealen erzogen wurden und versuchen, diesen Idealen treu zu sein und ihr Bestes zu tun. Das Absurde daran ist, dass man diese Menschen nicht bestrafen kann, weil sie sich ohnehin selbst töten. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, um etwas zu zu verändern. Gandhi zum Beispiel, den ich bewundere. Das ist eine Art Selbstmord, der so positiv ist, wie der eigene Tod nur sein kann: indem man sein eigenes Leben für das Leben anderer riskiert, ohne dabei anderen zu schaden. Die Anschläge auf das Word Trade Center, das ist natürlich eine andere Geschichte.
Kannten Sie das Word Trade Center – von eigenen Reisen?
Einmal war ich dort oben. Hohe Gebäude machen mir Angst. Man kann nicht fliehen, wenn es darauf ankommt. Das ist verrückt: warum baut man überhaupt Gebäude, die zu einer Falle werden können? Bei welchem Notfall reichen schon vier Stunden, um davonzukommen? Vielleicht bei einer Mäuseplage.
Haben Sie ein Bild vom Teufel?
Nein. Der Teufel ist nur eine Entschuldigung. Hinter allem, was ein Mensch tut, steht höchstens wieder: ein Mensch.
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© by Monsieur Farkas, 2016
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