Maccaroni und die Suche nach dem Glück

Eine Abschweifung der Schauspielerin Isabella Rosselini aus dem Jahr 2000 über die Flüchtigkeit der Existenz, ihren Hund Maccaroni und die Kunst, eine Familie zu gründen.

In nicht allzu ferner Zukunft wird nichts mehr von mir übrig sein. Meine Kinder werden sich natürlich an mich erinnern. Und für einen Moment bin ich mehr als glücklich, wenn ich mir vorstelle, dass auch meine Enkel an mich denken mögen. Doch Erinnerungen sind flüchtig. Irgendwann gibt es nur noch den Namen einer Person, und selbst dieser Name wird in einigen Jahrzehnten in Vergessenheit geraten sein. Das gilt für fast alle Menschen. Auch für sehr berühmte.

Ein gutes Beispiel sind meine Eltern. Die große Ingrid Bergmann und der große Roberto Rosselini – seit ungefähr zwanzig Jahren sind sie tot, und in ihren Filmen leben sie zwar in gewisser Weise weiter. Doch auch das Zelluloid altert, und abgesehen davon frage ich mich, ob sie heutzutage wirklich noch erinnert werden; außer vielleicht von Zeitgenossen und von denen, die sie persönlich kannten.

Umso zweifelhafter ist, wie es erst bei der nächsten und übernächsten Generation aussehen wird. Wird man in dreißig Jahren »Casablanca«  noch kennen – jenen Film, der meine Mutter unsterblich gemacht hat? Wird man »Rom, offene Stadt« noch irgendwo erwähnen – jenen Klassiker aus der Nachkriegszeit, mit dem mein Vater Filmgeschichte geschrieben hat?

Selbst bei mir selbst kann ich diesen Effekt schon beobachten. »Blue Velvet«, der Kultfilm meines Ex-Mannes David Lynch, hat mich als Schauspielerin populär gemacht, und das ist gerade einmal fünfzehn Jahre her. Doch schon heutige Teenager kennen den Film nicht mehr. Das öffentliche Gedächtnis funktioniert anscheinend nach eigenen Gesetzen. Deshalb sage ich zu befreundeten Filmemachern, wenn sie gerade besonders stolz auf ein neues Werk sind: »Macht euch nichts vor. Die Ewigkeit, das sind höchstens zwanzig Jahre!«

Dennoch möchte ich weder ein Napoleon sein, noch ein Beethoven, Charlie Chaplin oder Jesus – nur um die Jahrhunderte zu überdauern. Und wenn ich träume – was ich nicht so oft tue –, dann träume ich auch eher von nahe liegenden Dingen.

Neulich zum Beispiel träumte ich von meiner Hündin Maccaroni. Mitten in New York hüpfte sie von meinem Dach auf das Dach der Nachbarn. Im Traum sagte ich mir: Mein Gott, Maccaroni ist heute so fett und hat so kurze Beine, wie macht sie das nur! Anschließend bin ich aufgewacht und habe meinen Hund sehr bewundert.

Auch meine Tagträume sind nicht unbedingt exotisch oder besonders verwegen. Als junge Frau habe ich mir zwischendurch eingebildet, ich müsste Sportreporterin werden, und tatsächlich habe ich eine Zeit lang von den Boxkämpfen Muhammed Alis berichtet. Doch ich bin nicht der Typ, der von einer Sache träumt und dann darauf hinarbeitet. Es gibt Gelegenheiten, die man nutzen kann, mehr  nicht. Und wer weiß, vielleicht erscheint auch einer meiner größten Träume auf den ersten Blick ein bisschen klein. Aber er enthält mehr, als ich anfangs erwartet hätte.

Gehen wir ein paar Jahre zurück. Ich habe eine Tochter, Elettra, die inzwischen neunzehn Jahre alt ist und aus meiner Ehe mit dem Regisseur Martin Scorcese stammt. Und was wünsche ich mir? Ich träume in dieser Zeit von nichts anderem, als ein zweites Kind zu haben. Das ist alles, und ich weiß, eigentlich ist es ja verdammt viel. Obwohl ich nicht mehr verheiratet bin, beschließe ich trotzdem, meinen Traum zu verwirklichen: Ich adoptiere ein Kind. Mir ist auch klar, dass viele das nur für eine Notlösung halten.

Umso mehr bin ich überrascht, wie romantisch und bewegend es sein kann, genau auf diese Weise einen Sohn zu bekommen. Zum ersten Mal wird einem nämlich bewusst, dass alle Menschen wirklich miteinander verbunden sind. Schließlich könnte jeder Mensch genau so gut in einer ganz anderen Familie leben. Jetzt habe ich also endlich einen Sohn – obwohl ich ihn nicht selbst auf die Welt gebracht habe.

Seine Haut ist schwarz. Seine Augen sind blau. Er heißt Roberto und spricht Italienisch, so wie ich. Das alles ist ein bisschen verwirrend, denn man weiß erst einmal nicht so genau, wo er eigentlich herkommt; es vermischt sich so viel bei ihm. Und das Erstaunliche ist, wie eine Adoption die eigene Familiengeschichte verändert – vielleicht sogar stärker, als wenn es ein eigenes Kind wäre. Denn Roberto verbindet mich mit einem anderen Teil der Welt, und ich bin stolz darauf.

Ich habe seine Herkunft bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt, und wie ich vorhin schon sagte: Namen und Details verlieren sich mit der Zeit. Fest steht aber, dass man sich einen seiner afrikanischen Vorfahren als einen freien Mann vorstellen muss – der dann schon in jungen Jahren versklavt wurde. Diese Vorgeschichte Robertos, die von einer Tragödie und von der Unterdrückung des Menschen erzählt, wurde durch die Adoption Teil meiner eigenen Geschichte. Es ist die andere Seite des amerikanischen Traums – verkörpert von einem kleinen, mittlerweile achtjährigen Jungen, den ich sehr liebe.

Roberto verdanke ich, dass sich mein Traum jeden Tag fortsetzt. Und manchmal führt mich dieser Traum zurück in die eigene Kindheit. Dann vermischen sich die Erinnerungen, von denen manche echt und andere vielleicht falsch, manche gut dokumentiert und manche vielleicht nur gut geträumt sind. Und es ist nicht immer leicht zu entscheiden, welche der Wahrheit am nächsten kommt.

So rauschen meine Gedanken dahin, und ich lande irgendwann im Landhaus meiner Eltern in Santa Marinella, nördlich von Rom, in einem schattigen Garten. In den Sommerferien waren wir dort unglaublich viele Kinder, sieben Geschwister, dazu Cousinen und  Cousins und deren Freunde. Auch wenn meine Eltern gar nicht da waren, kamen die Fotografen, die unser Haus belagerten, um an neues, möglichst Aufsehen erregendes Material heranzukommen. Und selbst wir Kinder – es waren selten weniger als fünfzehn – wurden regelrecht verfolgt. Das hat uns aber nicht viel ausgemacht. Wir haben die Paparazzi mit Steinen beworfen und uns einen Höllenspaß daraus gemacht, ihnen immer neue Fallen zu stellen.

Dann befinde ich mich, ohne es zu planen, im Mai 1968 – einer Zeit, die leider an mir vorbei gegangen ist. Da hatte ich gerade eine schwere Wirbelsäulen-Operation hinter mir, musste über vier Monate im Bett liegen und konnte die Proteste und Demonstrationen jener Zeit nur im Fernsehen verfolgen.

Auch damals ging es um Träume und darum, wie man sie realisieren könnte. Doch wovon ein Traum auch handeln mag, ob er politisch oder privat ist – eines wird er letztlich nicht beantworten können, und das ist die Frage nach dem Geheimnis des Glücks.

Meiner Mutter wurde diese Frage oft gestellt: Was ist Glück? Und sie meinte dann bloß: Glück, das bedeutet gute Gesundheit, und ein schlechtes Gedächtnis. Den Journalisten gefiel diese Antwort. Meine Mutter wusste, wie dumm die Frage ist. Das Geheimnis des Glücks kennt niemand; nicht einmal mein wirklich begabter Hund Maccaroni.

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