Ideale

Er beschließt, nur noch nach seinen Idealen zu leben.

Spiegel braucht er für sein neues Leben nicht mehr. Seinen Pass schenkt er einem Flüchtling. Und wenn er das Haus verlässt, dann nur noch mit einem Colt. Das Gute ist so verletzlich, denkt er: Man muss ihm ständig Rückendeckung geben.

Das Böse ist fieser, als er gedacht hätte. Es will ihn zunächst nicht beachten. Tagsüber verkriecht es sich in den Mördern und Maklern dieser Welt. Abends vergnügt es sich in einem Kunstpark. Niemand bekommt daher seinen Sinneswandel mit. Nur sein Chef wundert sich, dass er nicht mehr in der Arbeit erscheint.

Natürlich geht er, statt zu arbeiten, ins Baader Café. Dort wurden schon alle wichtigen Revolutionen durchgespielt. Deshalb hängt auch eine Weltkarte an der Wand. Er bestellt heute keinen Milchkaffee, sondern klaren Schnaps und Wasser. Die Zeitungen bestärken ihn. Sie geben ihm das Gefühl, dass er auf der richtigen Seite steht. In der Zeitung, denkt er, steht immer die Wahrheit. Man muss sie nur lesen können.

Das Böse ist natürlich nicht nur böse, es ist auch geschickt. Es tarnt sich als Traum von Selbstverwirklichung, um ihn mit der Routine des Alltags jeden Tag aufs Neue gleich wieder zerplatzen zu lassen. Um dem Bösen endlich auf die Spur zu kommen, muss er ihm also direkt ins Auge sehen. Hier im Café, denkt er, kann ich lange warten.

»Zahlen, bitte.«

Was unserem Helden an dieser Stelle fehlt, ist eine Gruppe Gleichgesinnter, der er sich anschließen könnte. Seine Eltern, soviel ist klar, kommen nicht mehr in Frage. Seine Freunde verschanzen sich hinter Anrufbeantwortern oder sind tot. Und die Telefonnummer von der Stadtguerilla kann er auch nicht finden.

Doch ehe er sich weitere Gedanken machen kann, stürmt eine Horde junger Typen mit riesigen Schatten unter den Augen auf ihn zu. In den Händen halten sie große Stapel mit Flyern. Spaß, Spaß, Spaß, schreien sie wild durcheinander. Unser Held wittert das Böse, entsichert den Colt und schießt einige Male in die Luft.

Die Flyerverteiler flüchten in alle Richtungen. Nur einer bleibt mitten auf dem Gehsteig stehen. »Nicht schießen!«, entgegnet der Fremde. „Ich bin die Stimme des Underground.« Der Held senkt die Waffe, geht zögernd auf den Fremden zu, der seine Stimme erneut erhebt. »Komm zu uns. Und damit eines klar ist: Uns geht es nicht um Geld. Wir leisten Widerstand. Wir sind Idealisten.« Und flüsternd fügt er hinzu: »Einen wie dich können wir brauchen. Wir suchen nämlich noch einen Türsteher.«

Was soll’s, denkt sich unser Held.

Was soll er schon ausrichten mit seinen blöden Ideen? Türsteher, wäre vielleicht gar nicht schlecht. Man könnte sich die Leute anschauen. »Kontakte knüpfen«, murmelt er. »Und dem Guten zum Sieg verhelfen.« Was aber, wenn das Ganze nur eine Falle ist?

Unser Held geht zurück ins Baadercafé. Er setzt sich und betrachtet die Weltkarte. Und als er genauer hinschaut, fällt ihm plötzlich auf, dass ein Land fehlt. Genau ein Land. Das muss meine Heimat sein, denkt er.

In diesem Augenblick wird er von dem weißen Fleck auf magische Weise angezogen, und er verschwindet darin für immer.

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© by Monsieur Farkas, 2016