Das elektrische Mädchen

Ein Tagtraum des französischen Schriftstellers Frédéric Beigbeider über ein namenloses attraktives Mädchen, das ein Produkt seiner Imagination ist, und über einen Stromausfall, der die gesamte Stadt lahmlegt.

Ich bin in einem Café in Berlin und trinke Coca-Cola. Neben mir sitzt ein Journalist, der wissen will, wovon ich träume. Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Ich schaue aus dem Fenster. Ein blondes Mädchen geht vorbei. Es ist eine Königin, mit geflochtenen Zöpfen und stolzem Schritt, und ich fürchte, dass ich sie nicht nur mag, nein: Ich liebe sie! Was heißt Liebe: Ich hungere nach ihr! Schade – jetzt ist sie ist weg.

Hätte ich einen Wunsch frei, würde ich mit diesem namenlosen Mädchen mein Leben verbringen. Ich würde mit ihr in eine Hütte ziehen, Bücher schreiben und mich die nächsten fünfzig Jahre nicht mehr zeigen. Keine Fotos, keine Interviews –  so wie es die großen amerikanischen Schriftsteller praktizieren, Jerome D. Salinger und Thomas Pynchon. Und ähnlich wie das Elektronik-Duo Daft Punk, das sich hinter Masken versteckt. Ich finde es glamourös zu verschwinden. Erinnern Sie sich an Cat Stevens? Ein Popstar, der mit 39 Jahren alles verkauft hat, sein Klavier, seine goldenen Schallplatten, und dann ändert er seinen Namen, und man weiß nichts mehr von  ihm. Wie ist das eigentlich in Deutschland, mit berühmten Künstlern? Ich glaube, von Günter Grass gibt es eine Menge Fotos.

Das namenlose Mädchen also, und die Suche nach einem Traum.

Ich bilde mir ein, meine blonde Königin zu lieben. Aber ich habe sie nur einige Sekunden gesehen, und ich kann nicht sagen, ob dies wirklich mein eigenes Begehren ist. Seit Freud wissen wir, dass die Eltern eine bedeutende Quelle unserer Wünsche sind. Sartre machte darauf aufmerksam, wie stark wir von den Blicken anderer beeinflusst werden. Und schließlich taucht ein gewisser Beigbeider auf und behauptet: Es ist die Werbung, die für dich entscheidet. Sie ist es, die Lügen in unsere Gehirne pflanzt. Sie ist es, die unsere Herzen vergiftet und hohle Träume produziert.

Mag sein, dass ich die blonde Königin verwechselt habe – mit einem Calvin-Klein-Model. Vielleicht bin ich nicht fähig, Menschen zu lieben – sondern nur noch Bilder.

Deshalb behaupte ich, dass Werbung Gift ist. Und ich weiß, was ich sage, denn ich kenne diese Branche von innen. Damals war ich Werbetexter, das heißt  eigentlich war ich – eher eine Küchenschabe. Langsam wurde ich einer von denen, die in riesige Gebäude kriechen, Meetings abhalten und stundenlang  diskutieren, wie man Wünsche erzeugt. Dabei habe ich kichernd genickt und meinen Beitrag geleistet. Und weil ich eine nette Küchenschabe war, bin ich befördert worden.

Jetzt aber bin ich Frédéric Beigbeider, und es gibt keinen Grund mehr, Rücksicht zu nehmen.

Ich bin pessimistisch, auch wenn der Journalist neben mir vielleicht lieber einen knallbunten Traum von einer Sexorgie auf dem Mars hören würde. Ich bin pessimistisch, denn es ist leicht vorstellbar, dass es schon zu spät ist. Vielleicht wird der Mensch noch ein bisschen Spaß haben und dann für immer verschwinden. Doch wer weiß, vielleicht ist das gar nicht so wichtig. Und nicht einmal schlimm. Wenn es unsere Bestimmung war, den Planeten in einen Supermarkt zu verwandeln und dann auszusterben, sind wir dabei, unseren Auftrag zu erfüllen.

Und so wie es die Dinosaurier vielleicht nur gab, um neuen Stoff für Steven Spielberg zu liefern, könnte auch die Geschichte des Menschen irgendwann von der nächsten Spezies verfilmt werden. Von intelligenten Kakerlaken.

Ich merke gerade, wie ich beginne, mich in einen moralischen Helden zu verwandeln. Das will ich überhaupt nicht. Glauben Sie nicht, dass ich die Lösung wüsste oder korrekter wäre als Sie. Ich nuckle immer noch an meiner Coca-Cola; ich trinke das mieseste Getränk der Welt; ich weiß, dass ich damit kein gutes Beispiel abgebe.

Das hindert mich nicht daran, weiter nach einem Traum zu suchen. Doch ich träume nicht von einer Villa mit Swimming-Pool, einem roten Porsche und einer Frau mit rasierten Achselhaaren und extralangen Beinen. Ich will auch nicht so perfekt aussehen wie ein Typ aus einer Werbekampagne von Ralph Lauren. Ich träume lieber – von einem Stromausfall.

Es wird Abend, Dunkelheit legt sich über die Stadt. Alle Fernseher bleiben stumm, das Internet schweigt, und bald ist der letzte Handy-Akku vollständig entladen. Was passiert? Nicht viel. Kerzen brennen, und nach dem ersten Schrecken wird es für manche ein bisschen langweilig. Einige mögen ein Kind zeugen; die meisten aber wissen nicht so recht, was sie tun sollen. Sie ahnen nicht, dass Langeweile ein Luxus sein kann – in einer Welt, in der wir es gewohnt sind, ständig etwas zu planen, zu ersehnen oder zu kaufen.

Vielleicht könnte uns erst eine Notsituation wie ein Stromausfall bewusst machen, in welcher Weise wir mit Slogans, Bildern und Logos belästigt werden; der gewalttätige Druck auf unseren Geist würde vorübergehend entfallen. Wir gehen raus auf die Straße. Wir treffen andere und reden miteinander – statt zu telefonieren und zu vereinbaren, wann man das nächste Mal telefonieren wird. Unser Blick wird langsam klarer. Wir sind gezwungen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich sage nicht, dass das bequem ist. Vielleicht fürchten wir das Dunkel der Nacht, das Grau des Tages und die Leere des Himmels. Aber es könnte der Anfang sein, uns selbst besser zu erkennen.

Irgendwann gehen die Lichter natürlich wieder an. Die Mode hat uns wieder. Das Handy, das die Menschen angeblich zusammen führt. Das Auto, das uns die Illusion von Freiheit gibt. Der Sex, der uns versprochen wird, wenn wir Schokolade kaufen oder Sekt.

Dabei glaube ich, dass wir auf Werbung nicht einmal verzichten müssten. Zumindest dann nicht, wenn sie aufrichtig wäre und Informationen verbreiten würde. Werbung sollte zum Beispiel zeigen, wie Dinge hergestellt werden. Also: Wir produzieren Schokolade, in dieser Fabrik bei Stuttgart. In diesem Lastwagen wird sie transportiert. Hier, in diesem Kessel, wird sie erhitzt. Und da sehen Sie Kurt, der für uns arbeitet. Wenn Sie unsere Schokolade nicht kaufen, müssen wir Kurt leider entlassen. Ungefähr so stelle ich es mir vor.

Der Journalist sieht zufrieden aus.
Mit meiner blonden Königin würde ich es vermutlich keinen Tag aushalten.
Das Fläschchen Coca-Cola ist leer.

//////////////////////////////////////////////
© by Monsieur Farkas, 2016

> Kann man einem Werbetexter trauen – auch wenn er inzwischen Schriftsteller ist? Beim Interview in einem Café in Berlin-Mitte im Juni 2001 wird schnell klar, dass Frédéric Beigbeder (sprich: Bägbedeh) die Kunst des Verkaufens immer noch perfekt beherrscht. Er grinst wie in einer Werbung für Schokopudding, schmückt sich mit Zitaten von Baudelaire und Stendhal, und wenn er eine Cola bestellt, kommentiert er selbstkritisch: »Ich bin auch nur ein Mensch.« Am Ende des Gesprächs stellt er sogar seinen Traum in Frage: »Habe ich die Wahrheit gesagt? Oder nur gelogen? Waren alles nur Windmühlen? Ich glaube, in Wirklichkeit befinden wir uns in einem Spot – in dem sich Windmühlen drehen und zischen, wie bei Don Quijote. Man weiß nicht genau, ob die Werbung der wirkliche Feind ist, oder nur ein Gespenst. Und dann, Knall, Logo: Kaufen Sie das neue Buch von Beigbeider, Neunundreißig Neunzig. Ende.«