Flashback in Marseille

Sommertage im Süden Frankfreichs. Den salzigen Schaum des Meeres und die Sonne spüren. Nicht viel tun. Sich über sein Dasein wundern, über die Erscheinungsformen des Wassers, und den Film des eigenen Lebens anschauen, der in diesem Fall von der phantastisch anmutenden Gründung eines Unternehmens und den dazugehörigen Risiken und Nebenwirkungen handelt.

Kürzlich bin ich aus Marseille zurückgekommen, wo ich am Meer saß und über mein Leben nachgedacht habe. So wie schon einmal, vor ziemlich genau fünfzehn Jahren, an derselben Stelle. Der Strand heißt Malmousque, besteht vor allem aus Felsen, die wenige Touristen anlocken, dafür die ein oder andere Französin, die man von der Ferne schnell für die Frau seines Lebens halten könnte, und darüber erstreckt sich das abgezäunte Gelände der Fremdenlegion, bei der sich ein Mann prinzipiell jederzeit bewerben kann. Eine Art letzte Option, die in Wirklichkeit natürlich keine ist.

In der Zwischenzeit, in den letzten Jahren, habe ich zahllose sogenannte Bürgerkriege überlebt und den 11. September, bin weder an HIV erkrankt noch an Krebs gestorben und habe auch keinen Nummer-Eins-Hit geschrieben. Ebensowenig hatte ich einen Lebenstraum oder auch nur einen Drei-Jahres-Plan. Was das Leben eigentlich ausmacht und wie es funktioniert? Keine Ahnung. Obwohl ich Verleger geworden bin und unzählige Manuskripte gelesen habe, die in der ein oder anderen Form davon handeln, weiß ich es nicht.

In den besten Jahren jedenfalls (also die Zeit vor den besten Jahren) war ich irgendwo im Regulären angekommen. Festanstellung, Aquarium im Chefzimmer, schönes Wochenende, auf Wiedersehen. Einer meiner ehemaligen Vorgesetzten: tot. Einfach gestorben. Mittendrin. Superentspannter Typ. Nie der Exzess. Ruhige Kugel. Für immer vorbei.

In einem Anflug von Drang nach Veränderung bezog ich zusammen mit einem Freund eine neue Wohnung in der Münchner Innenstadt. Das Haus und alles darum herum, die Nachbarn, die Trambahn, die Gerüche vom naheliegenden Viktualienmarkt, erschien so freundlich, dass wir gelegentlich einen Barabend veranstalteten. Blumenstraße, Blumenbar. So stand es auch bald in weißen unregelmäßigen Pinselstrichen auf der rohen Wohnzimmerwand. Privatbar, wer Text hat, liest. Ganz einfach. Und wer’s weiß, kommt rein.

Das war in der zweiten Hälfte der Neunziger, als Community noch kein Begriff, sondern ein Gefühl war; ein Jahrzehnt, von dem es seit kurzem immer öfter heißt, es sei ein blühendes gewesen.

In dieser unserer schönen kleinen Bar, die es eigentlich nicht gab, trafen junge Mädchen auf Dichter, DJs auf Drehbuchautoren und Kleindealer auf angehende Künstler im freien Fall. Das hätte sich keine Marketingabteilung besser ausdenken können. Denn es passierte einfach. Und war in diesen Räumen, auch laut Mietvertrag, definitiv nicht vorgesehen.

Im Nachhinein stellte sich diese Phase aus unternehmerischer Perspektive als Einführung der Marke dar. Ein Testmarkt für ein neues literarisches Label mit Nachtlebenbonus. 2002 wurde aus dem Label unversehens der kleinstmögliche Verlag, der mit einem einzigen Roman und keinem einzigen Handelsvertreter sowie null Cent Startkapital in einem zweitürigen zitronengelben Renault Richtung Frankfurter Buchmesse brauste. Alles gefilmt mit HD-Profi-Kamera. Befreundete Filmemacher hatten nämlich als einzige neben Wim Wenders die Ehre, eine Art technischen Testdreh zu machen. Und was gibt es Besseres, als während eines Messeauftritts in ständiger Begleitung einer Kamera zu sein.

Der neu gegründete Blumenbar Verlag war auf der Messe nicht das Thema Nummer eins. Das gelingt nur Dieter Bohlen im Streitgespräch mit Günter Grass über die Zukunft des Zwiebellooks im Zeitalter der Postauthentizität. Aber es war ein Thema. Den Verlagsstand, ausgestattet mit Kühlschrank, Espressomaschine, Plattenspieler und Orchideen, schmückte auch eine Seventies-Siemens-Waschmaschine, wie sie in stilisierter Form auf dem ersten Buchcover des Romans »Memomat« abgebildet war. Und selbst die konservativsten Feuilleton-Redakteure mussten zugeben, dass der Kaffee nirgends frischer und das Bier nirgends kühler war als hier. Messebesucher konnten außerdem Bücher ihrer Wahl probeweise zum Schleudern in die Maschine einfüllen. Nichts war mehr wie früher.

Und auf einmal waren wir drin.
Im Betrieb, in der Branche, im Licht.

Angetrieben vom Leichtsinn, der uns fliegen gelehrt hat. Auf einmal konfrontiert mit Businessplänen, Gesellschafterverträgen, Lieferbedingungen. Zwischen der Euphorie, alles anders machen zu wollen, und der Angst vor dem unternehmerischen Absturz. Dazu eine unerklärlichen Vorliebe für Schrift, Lesen, Reflexion, Spiegelung, Einsamkeit, Selbsterkenntnis; aber auch der Vorliebe für Auf-Messen-In-Gruppen-Herumstehen, warten auf die Lesung (auch warten, bis sie endlich vorbei ist), auf das permanente Danach und Davor, den Austausch, das Herummachen, was heute noch passiert oder wer über welches Buch was schreibt und welches Thema in genau einem Jahr besonders heiß sein könnte, wer neu dabei oder überhaupt noch dabei ist heute, auf die Party, den Aufriss, die Abfahrt, das Bier, den Beat.

Ein Dutzend Buchmessen später, im Herbst 2011, dreht die Branche wieder einmal am Rad, und zwar so kräftig wie noch nie. Das große Büchersterben könnte längst begonnen haben. Die Digitalisierung macht auch vor der Literatur keinen Halt. Wer jetzt nicht die Weichen für die Zukunft stellt, wird keine haben.

Dabei ist es in Wirklichkeit eine verheißungsvolle Situation: Neuland. Unübersichtlich, unwägbar und voller Chancen. Denn natürlich wird es auch in Zukunft Menschen geben, die gedruckte Bücher lesen. Und daneben genauso welche, die ihre digitale Bibliothek in der Hosentasche spazieren führen. Fest steht auch: es wird neue Genres geben. Vielleicht sogar Ländergrenzen sprengende Kollektivromane in Text und Bild, die in einer einzigen Sekunde spielen.

»Ich war sehr wunschlos gestimmt«, notiert Waltern Benjamin in »Haschisch in Marseille«.

»Wir müssen zurück in die Unsicherheit«, schreibt der Norweger Matias Faldbakken in einem seiner – noch analog erschienenen – Bücher.

»Ja zum Leichtsinn«, sagt der Schriftsteller und Blogger Airen, »denn nur diese Küsse zählten, nur dieses Lächeln war echt, nur dann und dort habe ich gelebt.«

Faldbakken ist als Schriftsteller und bildender Künstler einer der Shootingstars der jüngeren Szene, ein höflicher Mann, der sich Eingemeindungsversuchen des Kulturbetriebs radikal widersetzt. Airen ist inzwischen, mit Freundin und kleinem Baby, nach Mexiko aufgebrochen, um eine Hütte an der Küste zu finden, zu schreiben – und zu sehen, was als nächstes passiert.

In Marseille kreisten die Gedanken und zogen irgendwann vorbei, wie die Passagiermaschinen, die alle paar Minuten ihre Spuren am Himmel hinterließen. Gedanken über persönliche Restrisiken und Digitalisierung, Gedanken über das Geheimnis von Liebesbeziehungen (es war plötzlich ganz einfach: halte aus, was dich am anderen nervt, lerne den Widerspruch schätzen – und liebe weiter) oder über Heinrich von Kleist, der erst dann glücklich gewesen sein mag, als er sich mit seiner Geliebten für, den Schritt in die größtmögliche aller Ungewissheiten, den gemeinsamen finalen Abgang, vorbereitet hatte.

Fast jeder am Strand von Malmousque hatte etwas zu lesen dabei. Echtes Papier, echter Wind, echtes Flattern. Salzige Luft, die Sonne blendete. Schlechte Zeiten für Reader und Smartphones. Man brauchte auch keine Nachrichten. Die Wellen spülten manchmal einfach nur eine Coladose heran, das musste als Info genügen.

Ein Vietnamese, so etwas wie der informelle Strandmeister, erzählte, er habe Serge Gainsbourg noch persönlich gekannt. Ich skizzierte im Gegenzug den Plan, nach dem Aufbau einer entsprechenden deutschen Independent-Bar-Kette eine Bar des Fleurs in Südfrankreich eröffnen zu wollen.

Braungebrannte Jungs sprangen währenddessen aus gut zehn Metern Höhe ins Wasser, mit dem Kopf voran, und stiegen mit siegessicherem Lächeln wieder den Felsen hinauf.

Einer der Jungs, der Schüchterne, stand die ganze Zeit nur daneben und schaute zu.

Ausharren, dachte ich das ist es, worum es eigentlich geht. Es erfordert mehr Mut zum Risiko als der Sprung selbst. Doch irgendwann, nach einer halben Unendlichkeit, hat auch er sich ein Herz gefasst, und manchmal, je nach Windverhältnissen, kann man das Klatschen heute noch hören.

//////////////////////////////////////////////
© by Monsieur Farkas, 2016