Ein Tagtraum des Schauspielers Ethan Hawke aus dem Jahr 2000 über Wachen und Schlafen, Vaterschaft und Familie und über die Phantasie, gestorbene Freunde wiederzusehen.
Tut mir leid, wenn ich noch nicht ganz da bin. Letzte Nacht ist es spät geworden. Ich war auf einer Party, genauer gesagt, auf der Premierenparty von »Hamlet«. Es war ganz nett.
In meinem Hotelzimmer bin ich sofort eingeschlafen. Seltsames Zeug habe ich da geträumt, von meinen Tanten und irgendwelchen obskuren Verwandten, die ich seit Ewigkeiten nicht gesehen habe. Sie plapperten die ganze Zeit vor sich hin. Aber was sie erzählen wollten, habe ich nicht richtig verstanden.
Als Junge träumte ich lieber tagsüber. Ich träumte von tausend Dingen. Ja, vielleicht war ich wirklich ein Traumtänzer. Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich meine Eltern früh scheiden liessen. Ich musste mir eine eigene Welt erschaffen.
Künstler wollte ich sein. Einer wie Jack Kerouac, der sich gut damit auskannte, wie ein möglichst verrücktes und freies Leben funktioniert; wie man das Leben in ein Fest verwandelt, das niemals aufhört. Besonders geliebt habe ich »On The Road«. Nur wenige Dinge haben mich tiefgreifend verändert. Dieses Buch gehört auf jeden Fall dazu. Seit ich es gelesen hatte, wollte ich selbst auch schreiben.
Und außerdem Schauspieler werden. Und Maler. Und ein Verführer. Am besten alles auf einmal. Allerdings habe ich früher auch gedacht, dass ich auf keinen Fall älter als zwanzig werden würde. Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten zu heiraten.
Und, als romantischer Junge, der ich damals war, konnte ich mir zwar vorstellen, unglaublich viele Kinder zu haben. Doch ich war sicher, dass ich sie gar nicht alle kennenlernen würde – weil ich nicht den Überblick haben würde, welche von mir sind und wo sich im übrigen all die Mütter herumtreiben.
Kürzlich war mein dreißigster Geburtstag. Er verlief ziemlich unspektakulär. Ich war mit meiner zweijährigen Tochter in einem Park in New York spazieren. Dann sind wir Mittagessen gegangen. Zur Feier des Tages haben wir uns zusammen »Sesamstraße« angeschaut. Den Abend habe ich mit meiner Frau verbracht. Meine Tochter heißt Maya Rey; meine Frau Uma Thurmann. Ich glaube, ich war an diesem Tag so glücklich wie noch nie.
So blöd das jetzt klingen mag, aber meiner Tochter verdanke ich eine Menge. Maya Rey, das ist übrigens der Name von Buddhas Mutter. Er bedeutet soviel wie: Spiegelungen des Himmels. Man kann weder den Himmel sehen noch Gott. Aber man kann das Spiegelbild Gottes sehen.
Allein Mayas Geburt mitzuerleben, war für mich wirklich ein Wunder. Es ist einfach so gottverdammt schön, wenn ein Mensch geboren wird! Und ich musste fast dreißig Jahre darauf warten. Kaum zu glauben: Die elementaren Dinge des Lebens – Geburt und Tod – ereignen sich im Krankenhaus. Normalerweise kriegt man davon nichts mit. Geburt und Tod sind vom übrigen Leben isoliert, als hätten sie damit nichts zu tun. Meine Güte, wovon rede ich eigentlich. Ich schätze, andere könnten das sicher viel besser.
Jemand wie meine Mutter zum Beispiel. Ich meine das ernst. Sie lebt seit letztem Jahr in Rumänien, wo sie in einem Friedenscorps arbeitetet. Sie setzt ihr Leben ein für eine gerechte Sache. Das bedeutet für sie Glück. Deshalb bin ich stolz auf sie. Und ich glaube, jemand wie sie hat mehr zu sagen als die meisten Künstler.
Ich selbst sehe erst jetzt so einigermaßen, wo ich überhaupt stehe. In meinen Zwanzigern wußte ich das nicht. Ich habe geflucht, weil ich geglaubt habe, dass ich zu spät auf die Welt gekommen bin. Ich hatte immer das Gefühl, die große Party verpasst zu haben. Die Rock’n’Roll-Zeit mit den phantastischen Stones, den Beatles und Bob Dylan war einfach vorbei.
Außerdem hatte ich Angst vor der Zukunft. Vor allem, was meine persönliche Entwicklung angeht. Immerhin war ich schon als Achtzehnjähriger mit meiner ersten großen Rolle in Peter Weirs »Club der toten Dichter« ziemlich erfolgreich. Ich dachte: Das kann nicht wahr sein.
Doch plötzlich bekam ich Zweifel. Ich war überzeugt, dass ich in der Falle saß. Entweder, ich würde von jetzt an ein eingebildeter Star werden, der sich selbst verleugnet und irgendwann von Hollywood vereinnahmt wird. Oder ich würde so einen Auftritt überhaupt nicht mehr hinkriegen. Ich einfach hatte Angst, meinen frühen Erfolg auf die ein oder andere Weise zu verspielen.
Inzwischen habe ich gelernt, mir selbst zu trauen. Ich fühle mich stark genug, nur in den Filmen aufzutreten, die mir auch gefallen. Und trotz meines intensiven Familienlebens ist es mir zum Beispiel gelungen, meinen zweiten Roman, »Wednesday Ash«, zu beenden. Könnte es sein, dass ich verdammt privilegiert bin? Dass ich gerade überhaupt keinen aktuellen Traum auf Lager habe – weil es mir einfach viel zu gut geht?
Ohne einen Traum bist du natürlich so gut wie tot. Vielleicht ist es ja so, dass sich Träume nicht unbedingt auf einen selbst beziehen müssen. Ich selbst war noch nie so zuversichtlich wie jetzt.
Wir haben das Jahr 2000, das eine bestimmte Aufbruchsstimmung verkörpert. Ich bin dreißig und sehe meine Leben endlich als ein Ganzes. Uma, die Frau, die ich liebe, ist zugleich mein bester Freund. Ich mag meine Generation. Und die technische Entwicklung, zum Beispiel die digitale Filmtechnik, wird uns in Zukunft neue künstlerische Ausdrucksformen ermöglichen.
Aber es reicht nicht, mit dem eigenen Leben zufrieden zu sein. Es gibt Leute, die auf der Straße herumlungern und nichts zu fressen haben. Oder die aus den unterschiedlichsten Gründen an ihrem persönlichen Schicksal zerbrechen. Die sich einen letzten Schuss setzen oder sonst wie ihr Leben beenden.
Von all diesen Menschen handelt mein Traum. Ich sehe die Toten wieder: meinen Freund, den Schauspieler River Phoenix. Ich sehe Kurt Cobain, der vermutlich der beste Hamlet aller Zeiten gewesen wäre; und ich sehe den weisen Jack Kerouac. Sie alle schauen auf uns herab und ziehen fiese Grimassen. Bis sie selbst lachen müssen.
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© by Monsieur Farkas, 2016