
Edith Flusser (1920-2014) lebte seit dem Tod ihres Mannes, des Philosophen Vilém Flusser, in stiller Trauer. Und arbeitete unaufhörlich und mit großer Hingabe. Eine Begegnung mit ihr in München 1996.
Jetzt ist sie es, die sich bodenlos fühlt.
Man sieht ihr an, dass sie noch viel hübscher gewesen sein muss, in einem früheren Leben, und ihr Blick ist wohltuend und freundlich, wie über alle Zeiten hinweg. Auch dass sie traurig ist, sieht man ihr an – seit ihr Mann, der Philosoph Vilém Flusser, vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Seitdem muss Edith Flusser eine mehr als fünfzig Jahre währende Liebesbeziehung alleine weiterführen.
Das hat nicht nur mit Romantik zu tun, sondern vor allem mit Arbeit. Die 76-Jährige sitzt fast täglich vor dem Bildschirm, inmitten all der Regale, in denen die Schriften ihres Mannes lagern; überarbeitet Aufsätze, die in Vergessenheit geraten sind; übersetzt und publiziert seine Texte; stellt Essays, Korrespondenzen, Interviews zusammen.
So ist es vor allem ihr Verdienst, wenn in den nächsten Tagen der European Photography Verlag unter dem Titel »Zwiegespräche« den ersten Band einer neuen groß angelegten Flusser-Edition herausbringt. Sein Nachlass, sagt sie, sei ein letztes großes Geschenk. Denn so habe sie das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Und wenn sich einmal einer der seltenen Besucher in das Flusser-Archiv in der Prinzregentenstraße 74 in München begebe, erfülle sie das mit stiller Freude. Sie weiß, dass aufgeschlossene Geister – und insbesondere junge Menschen – das Denken ihres Mannes sehr anregend finden.
Vilém Flusser ist ein Philosoph ohne Hauptwerk. Seine bevorzugte Form ist der Essay, sein Ansatz ein phänomenologischer: Was ist das, eine Flasche, ein Bett, ein Suppentopf, ein Telefon? Was ist das eigentlich, der Mensch? Was ist die Welt, und wie kann man darüber kommunizieren? Flussers Grundstimmung ist »bodenlos«. In seiner philosophischen Autobiographie, die bei Bollmann unter diesem Titel erschienen ist, notiert er:
»Jeder kennt die Bodenlosigkeit aus eigener Erfahrung. Wenn er vorgibt, sie nicht zu kennen, dann nur, weil es ihm gelungen ist, sie zu verdrängen. Aber es gibt Menschen, für die Bodenlosigkeit die Stimmung ist, in der sie sich sozusagen objektiv befinden.«
Bei Flusser sind es die äußeren Faktoren, die ihm den Boden rauben. Als 1939 in seiner Heimatstadt Prag die Nazis einmarschieren, bleibt dem Sohn jüdischer Eltern nur die Flucht. Gemeinsam mit seiner späteren Frau Edith emigriert er über London nach Brasilien. Sein Lebensgefühl, genährt von der Nachricht über den Tod des Vaters im KZ, beschreibt Flusser so:
»Die Nazis waren ebenso interessant wie die Ameisen, die Nuklearphysik war ebenso interessant wie das englische Mittelalter, die eigene Zukunft ebenso interessant wie die Zukunft der Krebsforschung.«
Dieses von Distanz geprägte Lebensgefühl kippt schließlich – Bodenlosigkeit wird zur Voraussetzung für Freiheit. Plötzlich stehen alle Türen offen: Ich kann mich umbringen, ich kann mich aber auch selbst entwerfen.
Vilém und Edith heiraten, bekommen in den nächsten Jahren drei Kinder. Vilém wird Professor für Philosophie und Kommunikation an der Universität in Sao Paulo, seine Aufsätze in Tageszeitungen machen ihn zu einem angesehenen Theoretiker. Die Terrasse der Flussers entwickelt sich zum Treffpunkt von Intellektuellen, Künstlern und Studenten. Doch als nach dreißig Jahren im Exil die Militärs an die Macht kommen, kehrt das Ehepaar nach Europa zurück.
Erst nach der Rückkehr, in einem Dorf in Südfrankreich, entstehen die Bücher Flussers, die ihn vor allem in Deutschland bekannt gemacht haben: »Die Schrift«, »Für eine Philosophie der Photographie« und »Das Universum der technischen Bilder«.
Mit diesen Werken wird Flusser, der nie einen Photoapparat in die Hand genommen, nie Autofahren gelernt und seine Texte ausschließlich auf mechanischen Schreibmaschinen verfasst hat, zum Mitbegründer eines neuen Weltbildes. Lange bevor das Internet öffentlich entdeckt wurde, beschreibt er, wie das lineare Denken einem vernetzten Denken Platz macht.
Nicht der Diskurs ist für Flusser eine Perspektive, denn dabei würden nur bereits fertige Ideen von zentraler Stelle in den Raum gesendet – wie beim Fernsehen. Sein Augenmerk gilt dem Dialog: Wenn zwei oder mehr Kommunizierende aus unfertigen Inhalten etwas völlig Neues entstehen lassen. Interaktivität war für Flusser schon vor zwanzig Jahren ein zentraler Begriff: »Ich ist, was von dem anderen Du genannt wird.«
Aber Flusser wird oft zu Unrecht auf eine Rolle als Medientheoretiker reduziert. Hinter dem Schöpfer mittlerweile Mode gewordener Ideen von der Ablösung des alphabetischen durch den digitalen Code verbirgt sich ein streng philosophischer Denker in der Tradition von Husserl, Wittgenstein und Camus. Diesen Denker gilt es, neu zu entdecken. Im öffentlich zugänglichen Flusser-Archiv sind etwa zweitausendfünfhundert Essays versammelt, jeweils in der deutschen, portugiesischen, englischen oder französischen Originalfassung. Das Schlagwortverzeichnis enthalt Begriffe von »Abendland« bis »Zwischenmenschliche Beziehungen«, von »Cyberspace« bis »Wunder«.
In München ist das Archiv eher zufällig gelandet. Als Ediths Tochter vor eineinhalb Jahren brasilianischen Generalkonsularin in München wurde, ist ihr die Mutter gefolgt, und mit ihr kistenweise beschriebenes Papier. Das Archiv soll voraussichtlich noch zwei Jahre in München bleiben, bis es einen endgültigen Platz im Zentrum für Kunst- und Medientechnologie in Karlsruhe finden wird. Bis dahin hat Edith Flusser noch eine Menge zu tun.
Bewundernswert ist für sie, dass ihr Mann selbst komplizierteste Gedanken in einem klaren Stil formulieren konnte. Flusser war ein Nomade des Denkens, ein euphorischer Geist, der in neuen Techniken zuallererst eine Chance gesehen hat – die Chance für eine »zweite Menschwerdung«. Seine Lebendigkeit einerseits und die starre Ordnung eines Archivs andererseits mögen nicht recht zusammenpassen. Aber die Offenheit von Edith Flusser macht das Archiv zu einem einladenden Ort.
Es sei zu schade, sagt sie, dass ihr Mann die heutigen Möglichkeiten der globalen Vernetzung nicht mehr miterleben dürfe. Es würde ihn faszinieren, mit jemandem in Australien Schach zuspielen. »Aber er würde im Internet nicht surfen«, fügt sie hinzu, »sondern lieber darin spazieren gehen.«
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© by Monsieur Farkas, 2016
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