Mein Leben als Liegender

Ein Tagtraum des Sängers und Musikers Dirk von Lowtzow, der von einem zurückgezogenen Leben im Sanatorium handelt, hervorgegangen aus einem Gespräch im Jahr 2000.

Ich bin behütet aufgewachsen; in Offenburg, einer kleinen unbedeutenden Stadt, in der ich auch zur Schule ging. Kann sein, dass ich irgendwann David Bowie bewundert habe. Sicher ist: Ich wollte anders sein als die anderen. Mich irgendwie abheben. Später stellte sich dann heraus, dass das eigene Leben oft gar nicht so ereignisreich ist. Nicht mal als Musiker. Man sitzt zuhause und schreibt Texte. Geht ins Studio und geht auf Tour. Zwischendrin ist man vielleicht mal bisschen müde.

Wenn ich gefragt werde, wovon ich träume, fällt mir erst einmal überhaupt nichts ein. Vielleicht bin ich zu faul, darüber nachzudenken. Außerdem habe ich ja das große Glück, mit Freunden Musik zu machen und davon leben zu können.

Abgesehen davon glaube ich nicht, dass Träume am Anfang einer Geschichte stehen. Bevor zum Beispiel unsere Band anfing, gab es keine Idee, sondern nur ein kleines Kästchen, das man in die Tasche stecken konnte. Das war Tocotronic – eines der ersten LCD-Spiele, bei dem man feindliche Objekte abschießen muss; ungefähr so wie bei Space Invaders. Das Spiel selbst war mir egal, mir gefiel nur der Name; weil er etwas Futuristisches hat und gleichzeitig sofort zu veralten scheint, wenn man ihn einmal gehört hat.

Dazu passt übrigens ganz gut unsere eigene Art von Uneindeutigkeit. Wir wollten nämlich nie so etwas wie ein Sprachrohr der Jugend sein. Doch genau so funktioniert anscheinend Pop: ausgerechnet mit sperrigen Zeilen wie »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« wurde aus drei Jungs ziemlich schnell eine einigermaßen populäre Band. Das hat uns vor allem selbst überrascht.

Jetzt ist, nach fast zehn Jahren Jugendbewegung, die neue Platte draußen. Wir sind auf Tour, mit neuen Stücken, die länger und vielleicht auch schwerer und komplizierter sind als das, was man sonst von uns kennt. Kopflastig, sagen manche, ich verstehe nicht, was das heißen soll. Manchmal jedenfalls stelle ich mir vor: wenn die Tour zu Ende sein wird, irgendwann im Herbst, wäre es schön zu liegen. Dazuliegen, weiter nichts. Die nächsten zehn oder zwölf oder von mir aus auch sechzehn Jahre.

Wer viel liegt, nimmt Raum und Zeit vermutlich ganz anders wahr. Man konzentriert sich auf den Atem, ruht sich aus; man beobachtet, nimmt das Beobachtete auf und überlässt es seinem eigenen Lauf – ohne sich um alltägliche Dinge wie Ernährung, Haushalt oder Songtexte kümmern zu müssen. Voraussetzung ist natürlich, dass es sich um eine richtige Liegekur in einem Sanatorium handelt; ungefähr so wie in dem Roman »Zauberberg« von Thomas Mann.

Ich bin kein ausgesprochener Fan von Thomas Mann. Aber ohne ihn gäbe es wahrscheinlich diesen Traum nicht.

Jetzt liege ich, endlich. Stille. Nichts zu tun. Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen, sehe die Welt aus einer anderen Perspektive – und weiß nicht, was das mit mir machen wird. Ich werde wohl ruhiger.

Noch immer liege ich, drehe mich nicht mehr, und allmählich befinde ich mich in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Ein wohliger Dämmerzustand. Mein Körper gibt den Ton an. Er scheint mir einerseits vertrauter zu werden – und entzieht sich gleichzeitig immer mehr. Ein Fremdkörper. Ohne Zufuhr von Giftstoffen oder Drogen produziert dieser Körper seltsame Bilder. Es sind schöne Bilder darunter, von einer Revolution, die in den weiten Hallen eines ungarischen Dampfbads beginnt; oder von einer tickenden Wanduhr, die im Rhythmus einer Musik tickt, die nie jemand hören wird. Ich  bin in einem Zwischenreich gelandet, wo man Reales leicht mit einer Phantasie verwechselt; wo man mehr ist als ein Gast, aber nie richtig zuhause.

Die Dinge in meinem Zimmer entwickeln ein Eigenleben, je länger ich sie betrachte. Die Maserungen im Holz erinnern mich an Figuren aus meiner Kindheit. Die abstrakten Muster der Tapete ergeben Gesichter, die mir unheimlich sind. Nichts lenkt mich davon ab, sie wieder und wieder anzuschauen. Es gibt hier nur das Bett, einen Beistelltisch und ein Waschbecken. Nach Möglichkeit jeden Tag frische Blumen. Und eine Minibar, das genügt.

Doch einsam ist dieses Leben nicht. Jemand wie Oblomov zum Beispiel bleibt in den eigenen vier Wänden – und weigert sich einfach, sein Bett zu verlassen. In meiner eigenen Traumvorstellung ist das anders. Ich will kein Eremitendasein führen, sondern brauche die anderen. Ich muss anderen begegnen und mich austauschen können.

Die anderen Gäste des Sanatoriums – das auch ein Kurhotel an der Ostsee oder ein altes Hotel an einem abgelegenen Ort in Italien sein könnte – treffe ich im Speisesaal oder im Salon, der über eine Bibliothek verfügt. Niemand in diesem Sanatorium ist übrigens wirklich krank. Die Gäste, das sind halbwegs verrückte Freunde; oder Musiker, die sich verschwendet haben an ihre Sache und eine Pause brauchen. Diese Pause könnte so groß sein, dass sie zum eigentlichen Leben wird. Man weiß es noch nicht.

Eines der unheimlichen Dinge an meinem Leben als Liegender ist das Personal. Am Anfang ist es unsichtbar: Ich absolviere im Liegeraum meine Liegekur, kehre nach einem Spaziergang zurück in mein Zimmer, und jemand hat das Bett frisch bezogen. Mit der Zeit lernt man sich ein bisschen kennen, vertraut einander. Eine Freundschaft mit dem Personal aber – das ginge zu weit.

Bald merke ich, wie lange sich manche Tage hinziehen. Es könnte sein, dass ich die Stadt vermisse. Manche Gesichter. Den Geruch einer Straße. Wie ein Kind gehe ich dann über die schweren Teppiche in den Gängen, sehnsüchtig, aber auch vorsichtig, bleibe vor einer verschlossenen Tür stehen und bekomme auf einmal Angst bei der Vorstellung, was sich dahinter befinden könnte. Später, am Ende eines dieser langen Tage, sitze ich mit den anderen Gästen nach dem Essen im Salon. Wir trinken, spielen Schach oder Kicker, unterhalten uns über die Scorpions und den Begriff Kopflastigkeit. Dann überlegen wir, was passieren würde, wenn sich Britney Spears und Michel Foucault hier begegnen würden.

Später, im Rauchersalon, kommt jemand auf den Gedanken, dass das Leben im Sanatorium sehr anstrengend ist; vor allem wegen der unzähligen Liegekuren.

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© by Monsieur Farkas, 2016