
Wer war Ulrike Marie Meinhof, Journalistin, Gründungsmitglied der RAF und tragisch in ihrem Kampf Gefallene? Eine Annäherung anlässlich ihres 25. Todestags am 9. Mai 2001.
Sie dürften sich prächtig amüsiert haben.
Ein Lokalblatt berichtete in den Siebzigern unter dem Titel »Das große Fressen am Wörther See« von einer luxuriösen Party, zu welcher »Industriemagnaten, Finanzgewaltige und Playboys aller gängigen Kaliber« in Privatjets angereist waren. Champagner floss; es liefen Pornofilme. Siebzehn Stunden lang mussten die fröhlich Feiernden von Polizeibeamten und einem privaten Sicherheitsdienst bewacht werden. Grund dafür war die Angst vor einem Anschlag der damals so genannten Baader-Meinhof-Gruppe.
Heute ist die RAF Geschichte, Mythos, Chiffre im Zeichensystem der Popkultur. Was nicht darüber hinwegtäuscht, dass die deutsche Öffentlichkeit im Umgang mit der jüngeren Geschichte immer noch von einer tiefen Verunsicherung bestimmt wird. Der Schrecken sitzt in den Knochen und wird es noch lange tun.
Erst musste Joschka Fischer sich gegen den Vorwurf wehren, er habe mit dem ehemaligen RAF-Mitglied Margit Schiller Kaffee getrunken. Dann sollte sich Jürgen Trittin für einen Text von 1977 entschuldigen, der eine gewisse Sympathie für die RAF zum Ausdruck brachte, den er aber gar nicht verfasst hatte. Und zuletzt durfte ein Redakteur des Spiegel den reuigen Ex-Kommunisten Gerd Koenen feiern, der in seinem Buch »Das rote Jahrzehnt (Kiepenheuer & Witsch) die radikalen politischen Aufbrüche der Sechziger und Siebziger Jahre pauschal in das Reich von Hirngespinsten verweist und das Ganze als »Spukschloss« bezeichnet.
Doch die damaligen Verhältnisse, die von Notstandsgesetzen, Obrigkeitsdenken und Blindheit gegenüber der Nazi-Zeit geprägt waren, waren kein Spuk, sondern Wirklichkeit; genauso wie die Aktion einer französischen Journalistin namens Beate Klarsfeld, die Georg Kiesinger, dem Kanzler der Großen Koalition, 1969 erst eine Ohrfeige verpassen musste, damit dessen ehemalige NSDAP-Mitgliedschaft zum Thema wurde, und die dafür eine Gefängnisstrafe von einem Jahr bekam. Auch die Vierhunderttausend Tonnen Bomben, die die US-Air-Force allein 1972 über Nordvietnam abgeworfen hatte, waren keinesfalls Hirngespinste.
Es ist, vor allem bei der Rechten, ein beliebtes Mittel im politischen Diskurs, den Gegner als realitätsfremd oder gleich ganz verrückt hinzustellen. Besonders krass zeigt dies das Beispiel Ulrike Meinhofs, deren Todestag sich heute zum 25. Mal jährt. Nach ihrer Festnahme, im Juni 1972, sollte der medizinische Nachweis geführt werden, dass sie nicht normal sei, sondern schwer gestört. Deutsche Geschichte als Krankheitsprotokoll.
Ulrike Meinhof beginnt ihre politische Laufbahn als Journalistin. Marcel Reich-Ranicki, den sie 1964 interviewte, schreibt über seine Begegnung mit ihr: »Warum hat sich Ulrike Meinhof, deren Zukunft ich nicht ahnen konnte, so tief in meinem Gedächtnis eingeprägt? Könnte dies damit zu tun haben, dass sie die erste Person in der Bundesrepublik war, die aufrichtig und ernsthaft wünschte, über meine Erlebnisse im Warschauer Getto informiert zu werden?«
In Kolumnen für das Magazin konkret setzt sich Ulrike Meinhof mit dem Vietnamkrieg auseinander; in Radio- und Fernsehbeiträgen behandelt sie die Situation jugendlicher Randgruppen. Aber sie zweifelt immer mehr an der Wirkung ihrer journalistischen Beiträge. 1968 notiert sie: »Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht.«
Als sie 1968 über einen Prozess gegen vier Kaufhausbrandstifter berichtet, lernt sie die Angeklagten Andreas Baader und Gudrun Ensslin kennen. Politisch findet sie Brandstiftung als Protestform falsch, und doch ist sie von der Militanz beeindruckt. Baader und Ensslin, zu drei Jahren Haft verurteilt, flüchten, nachdem eine Revision des Urteils abgelehnt wurde; Baader wird gestellt. Kurz darauf bricht Ulrike Meinhof mit den persönlichen und politischen Verhältnissen. Ihr Weg zur RAF beginnt mit einem Schuss, der ein Versehen war.
Am Morgen des 14. Mai 1970 betreten drei junge Frauen und ein Mann das Institut für Soziale Fragen in Berlin: Wie verabredet befinden sich im Lesesaal Ulrike Meinhof und der inhaftierte Andreas Baader, der von zwei Beamten begleitet wird. Das gemeinsame Buchprojekt für den Wagenbach-Verlag, das Meinhof und Baader angeblich ausarbeiten wollen, ist nur ein Trick. Es dient als Vorwand, Baader aus der Haftanstalt zu kriegen, um ihn anschließend zu befreien.
Der Plan für die Aktion sieht vor, dass Meinhof im Institut alleine zurückbleiben und die Unbeteiligte spielen soll. Doch es kommt anders. Der Mann des Kommandos – als einziger politisch desinteressiert – hält in der einen Hand eine Gaspistole, in der anderen eine Beretta mit Schalldämpfer. Als sich ihm der Institutsangestellte Georg Linke in den Weg stellt, verwechselt er seine Pistolen. »In einer Kurzschlusshandlung«, wie er später unter Tränen erklärt, drückt er den falschen Abzug und schießt scharf. Linke fällt schwerverletzt zu Boden. Das Kommando entkommt. Baader nutzt das Durcheinander und springt aus dem Fenster. Meinhof folgt ihm. Entgegen ihrer ursprünglichen Absicht.
Bereits am nächsten Tag hängen in Berlin Fahndungsplakate, die nur das Gesicht von Ulrike Meinhof zeigen: Mordversuch in Berlin. 10 000 DM Belohnung. In weniger als vierundzwanzig Stunden wird aus einer berühmten Journalistin die Staatsfeindin Nummer Eins.
Acht Tage später erscheint das Manifest »Die Rote Armee aufbauen«.
In den ersten knapp zwei Jahren ihres Bestehens ist die RAF ausschließlich damit beschäftigt, den Alltag in der Illegalität zu organisieren. Dann, im Mai 1972, sie erstmals in Erscheinung. Bei sechs Sprengstoffanschlägen, vor allem auf militärische Einrichtungen der US-Streitkräfte in Deutschland, gibt es vier Tote und zahlreiche Verletzte.
In einer Erklärung dazu heißt es: »Für die Ausrottungsstrategen in Vietnam sollen Westdeutschland und West-Berlin kein sicheres Hinterland mehr sein.« Kurze Zeit später werden die Gründungsmitglieder verhaftet.
Nach Ulrike Meinhofs Festnahme wird sie im Züge der erkennungsdienstlichen Behandlung gegen ihren Willen narkotisiert und geröntgt. Einen Tag später kommt sie im Gefängnis Köln-Ossendorf in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft will ihre Zurechnungsfähigkeit prüfen lassen und beauftragt den Gerichtspsychiater Witter mit einer Untersuchung ihres Gehirns – notfalls gegen den Willen der Gefangenen. Bundesanwalt Zeis: »Wäre doch sehr peinlich, wenn sich herausstellte, dass alle diese Leute einer Verrückten nachgelaufen sind.« Die geplante Untersuchung wird nach öffentlichen Protesten fallen gelassen.
Meinhof verbringt 273 Tage in totaler Isolationshaft. Die Zellenwände sind weiß, Tag und Nacht brennt Neonlicht, sie hat keinen Kontakt mit anderen Gefangenen und hört weder Außengeräusche noch menschliche Stimmen.
In einem Brief aus dem »toten Trakt« schreibt sie: »Rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt. Das ist das Schlimmste. Klares Bewusstsein, dass man keine Überlebenschancen hat; völliges Scheitern, das zu vermitteln.«
Kurzfristig bessert sich die Situation nach einem Hungerstreik. Im Mai 1975 beginnt in Stuttgart-Stammheim der Prozess gegen die erste Generation der RAF, dessen Ausgang sie nicht mehr erleben wird. Ulrike Meinhof stirbt im Alter von einundvierzig Jahren in ihrer Zelle im Hochsicherheitstrakt.
Am Morgen des 9. Mai 1976 wird sie von Justizvollzugsbeamten erhängt aufgefunden. Es gibt keinen Abschiedsbrief. Weder Angehörige noch Rechtsvertreter dürfen die Tote sehen. Noch vor der schlampig durchgeführten Obduktion meldet die Nachrichtenagentur UPI: »Selbstmord durch Erhängen». Der damalige RAF-Anwalt Otto Schily reagiert empört: »Warum die verdächtige Eile bei der Obduktion?« Schily fordert die Einsetzung einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission. Die zahlreichen Widersprüche im Zusammenhang mit ihrem Tod, die diese Kommission aufdeckte und 1979 veröffentlichte, sind nie geklärt worden.
Das Bild, das von Ulrike Meinhof bleibt, ist das einer ernsten Frau in ernsten Zeiten. Wie gut uns ihr Lächeln getan hätte.
//////////////////////////////////////////////
© by Monsieur Farkas, 2016
Keywords: 1976, Andreas Baader, Baader-Meinhof, Beate Klarsfeld, Beretta, Berlin, Das rote Jahrzehnt, Die Rote Armee aufbauen, Fahndungsplakate, Festnahme, Gerd Koenen, Gründungsmitglieder, Gudrun Ensslin, Hungerstreik, Illegalität, Institut für soziale Fragen, Joschka Fischer, Journalistin, Jürgen Trittin, Kiesinger, Köln-Ossendorf, Konkret, Marcel Reich-Ranicki, Nazi-Zeit, Neonlicht, Notstandsgesetze, Ohrfeige, Otto Schily, Protest, RAF, Schalldämpfer, Siebziger, Staatsfeindin, Stammheim, Trakt, Ulrike Meinhof, Untergrund, Vietnam, Vietnamkrieg, Wagenbach, Warschauer Getto, Widerstand