Achtundneunziger

Zu welcher Generation sie eigentlich gehörte, hatte sie sich gefragt, als sie schon eine Weile auf dem Balkon saß (der nicht ihr gehörte), den Abendstern suchte und fand (und der nur ihr gehörte) und das Bedürfnis bekam, sich einen Überblick zu verschaffen über sich und die Welt.

Wo fängt das an, wo hört das auf, dachte sie noch, und da klingelte, wie in schlechten Romanen, in die Stille hinein ein Telefon.

Es war, keine Frage, ihres.

»Ja, okay.«
»Okay.«

Sie streifte sich ihren fliederfarbenen Sommermantel über, lief die Treppe herunter und klackerte um die Ecke. Ein Mann, von dem sie noch wußte, dass er ein 78er war, überquerte gerade die Straße. Es war derselbe, mit dem sie sich später in einem ihr unbekannten Café über eine selten gehörte Pflanzengattung unterhalten sollte, die auch in einem Gedicht von Gottfried Benn eine nicht unwesentliche Rolle spielt.

Es ist besser, wenn ich ein Taxi nehme, dachte sie, nahm auf dem Rücksitz eines solchen Platz und kurbelte das Fenster herunter: Der Fahrtwind wird mir guttun!

Was die Generationsfrage angeht, war sie jedoch keinen Schritt weiter gekommen. Vielleicht gehöre ich ja zu einer Zwischengeneration, dachte sie und ließ die Stadt an sich vorbeirauschen. Aber sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Zwischengeneration, klingt das nicht nach faulem Kompromiss?

 Sie blätterte gelangweilt in einer Zeitung, die wohl jemand vergessen hatte, stieß dann aber auf einen Artikel, der sich genau mit ihren Fragen zu beschäftigen schien.

»Das Gequake von satten Fröschen«, lautete die Überschrift. 

Darunter stand: »Die Generation der Vierzigjährigen und ihre Angst vor der Verantwortung / Von Matthias Politycki.«

Nachdem sie den Text überflogen hatte – von 68ern, 78ern und 89ern war die Rede und davon, dass Astern und Plattenläden doof sind und endlich etwas geschehen müsse –, fand sie, dass solche Debatten albern seien; man müsste Dinge einfach tun, statt sie zu fordern. Politycki, Politycki, murmelte sie vor sich hin.

Das Taxi hielt.

Mit ihrem vorletzten Geldschein (20er) bezahlte sie (21) den unzeitgemäß wirkenden, aber freundlichen Fahrer (68er) und schlug die Tür des Wagens (190er) zu. Dann betrat sie das Café (70er).

Ihre Freundin, mit der sie sich lose verabredet hatte (zwischen 9 und 10), war wohl noch nicht da, und auf einmal musste sie, mir nichts, dir nichts, an ihre Lieblingsstellung denken (69). Lesung, dachte sie, als sie ohne jede Vorwarnung Mikro, Tisch und Buch im Halbdunkel (50/50) erkennen konnte, eine Lesung bringt mich jetzt um. Sie bestellte, trotz oder wegen der vielen Buchhändler im Publikum, einen doppelten Rum (94er). Während der DJ (89er) eine Pausenplatte auflegte (45er), zückte sie ihren Colt (38er) und schoss, mit dem Autor (78er) endlich über Astern diskutierend, den Weg frei für eine neue Generation (98er).

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© by Monsieur Farkas, 2016