Good Morning. Good Night.
Meine Freundin V – wie Victory – hat am Wochenende ein mobiles weißes Klo gekauft, für ihr Gartenhaus, das noch leer und unrenoviert ist, vielleicht der schönste Zustand, den eine Immobilie haben kann.
N hatte kürzlich einen Unfall, erzählt sie mit einem morgendlichen Lächeln im Gesicht, jetzt ist alles gezwungenermaßen anders und sie fährt nur noch Fahrrad wie früher, viel besser so, wie sie findet.
J ist gerade dabei, sein Geschäftsfeld zu erweitern und setzt auf das Thema Bildbearbeitung, entwirft Konzepte in seiner Remise und denkt doch wieder nur darüber nach, wann, ja wann er in Kuba ein neues Leben beginnen wird.
M, ein Freund des Hauses, frühstückt gerade bei uns, er ist auffällig frisch geduscht, während ich selbst eine Ungeduschtheit an den Tag lege, die ein gewisses Vertrauensverhältnis voraussetzt.
Meine geniale Freundin Pee Gee dagegen wird morgen abreisen und für zwei Monate nicht da sein. Heute Abend werde ich sie interviewen, da sie nicht nur hier in diesem Journal ihren regelmäßigen kleinen Auftritt hat, sondern auch eine Romanfigur ist. Ich finde, Romanfiguren sollten öfters interviewt werden, um auch einmal selbst zu Wort zu kommen.
* * *
All unsere Kinder und deren Freunde liefern sich währenddessen eine Wasserschlacht und haben von den Eltern, also auch von mir, erstmals die ausdrückliche Erlaubnis bekommen – um nicht zu sagen, die freundliche Empfehlung –, mit ihren riesigen Wasserpistolen auf die mit schon früh am Tage lauthals singenden Touristen beladenen Schiffen auf dem Spreekanal zu feuern.
* * *
Was sonst so in der Nachbarschaft geht oder nicht geht, los oder nicht los ist, ist nicht genau bekannt, da es immer wieder Blöcke von Wochen gibt, an denen sich die Bewohnerinnen & Bewohner nicht begegnen oder nichts zu sagen haben oder sich nicht mal antwittern oder ihre Wohnungen an Feriengäste vermietet haben, um die eigene Urlaubskasse aufzubessern.
Was ist mit T?
Warum zeigt sich W kaum noch?
An welcher Manuskriptversion arbeitet Z gerade?
Die Studentinnen aus New York – sind sie womöglich nur ein Gerücht?
* * *
Jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle, steht in großen Lettern auf einer Seite des mutmaßlich extrem aufwendig & teuren, von der hier im abgerockt-gentrifizierten Viertel ansässigen Agentur Double Standards produzierten, extra auf billig gemachten Programmhefts der seit letztem Jahr oder so von Lilienthal geleiteten Münchner Kammerspiele, eines städtischen Theaters also.
Herz. Revolution. Zelle.
Mit sechzehn, als meine Großeltern, die in der Lilienstraße wohnten, noch lebten, hätte ich das sicher toll gefunden, diesen Spruch.
Heute, einige hundert Sonntage später, da sich die Zellen meiner Großeltern schon lange nicht mehr teilen, löst das Sprachbild, das Herz und Zelle gewaltsam zusammenzwingt, einen seltsamen Schauder aus.
Dafür hat mir ein anderer Satz, der aus Theaterkreisen gemeldet wurde, umso besser gefallen. Ein schöner, ein rhythmischer Satz, ein Graffito, ein Motto, ein poetischer Slogan:
»Wir beginnen an einem charismatischen Nullpunkt.«
So Marietta Piekenbrock, Programmdirektorin der Volksbühne auf der Pressekonferenz letzte Woche.
* * *
Je sonniger die Tage, umso kürzer der Journaleintrag, das muss nicht so sein. Heute aber stimmt es.
Deshalb beginnen wir nicht nur, sondern enden auch am charismatischen Nullpunkt – jenem Punkt, an dem nicht nur alles möglich sei; sondern an dem, wie bavarische Philosophen seit jeher sagen, noch so einiges geht.
Bis nächstes Mal.
Sincerely Yours,
M. FARKAS
PS: Für alle, die hier neu sind, sei gesagt, dass dieses Journal zwei, drei Leserinnen & Leser aus der unmittelbaren Nachbarschaft hat und ansonsten immer wieder von Durchreisenden, die gerade keine Bleibe haben, heimgesucht wird. Es ist wie eine kleine Cafébar um die Ecke.
//////////////////////////////////////////////
HINWEISE IN EIGENER SACHE
Das Journal erscheint gewöhnlich einmal die Woche.
Alte Einträge werden durch neue ersetzt.
Feedback, Nachrichten, Veranstaltungshinweise,
Aufnahme in den Verteiler gerne an:
hello(at)monsieurfarkas.net
Für Notizen und Recherchen kommt ein Pinkbook zum Einsatz.
Bücher des Blumenbar Verlags Number One (2002-2012) können, sofern im Archiv vorhanden, hier bestellt werden: Bluarc.
In der Textbar findet sich eine Auswahl von Texten und Interviews aus den letzten zwanzig Jahren. Michel Houellebecq träumt von der Unsterblichkeit, A. L. Kennedy erzählt über Schreiben, Leben und den Teufel. Und vieles mehr.
Unter Office ist aufgeführt, für welche Jobs das Büro von Monsieur Farkas beauftragt werden kann.
Weiter unten folgen wie immer: aktuelle Veranstaltungshinweise, Empfehlungen, Videoclips.
//////////////////////////////////////////////
BERLIN, MON AMOUR
Mo 22.5.
Karl Ove Knausgard, Kämpfen (Lesung)
RBB / Großer Sendesaal
20:00
Do 25.5.
Pong Club
Tischtennis & Kollektives Wohnzimmer
Jonny Knüppel
Am Ende des Schleusenufers (Kreuzberg)
20:00
Fr 26.5.
… denn die Häuser gehören uns
Demonstration gegen steigende Mieten und Verdrängung
Kottbusser Tor / Südseite
17:00
//////////////////////////////////////////////
LINKS
Herbstvorschau 2017 des Verlags mikrotext zum Download:
www.mikrotext.de
Radikaldemokratisches digitales Magazin »Republik« in Gründung:
www.republik.ch
Richard Gutjahr – Von Fake News, Filterblasen und digitaler Empathie:
www.gutjahr.biz
Das Magazin der Kulturstiftung des Bundes,
Revolutionsausgabe Frühjahr/Sommer 2017,
bestellen und kostenlos zuschicken lassen über:
www.kulturstiftung-bund.de
//////////////////////////////////////////////
FROM CLIP TO CLIP
01 Juana Molina – Paraguay
02 Mazzy Star – Fade Into You