8.11..2016
Das erste Mal ist es immer am schönsten

Good morning. Good night. Heute sind wir unter uns. Sehr angenehm. Das Journal ist noch weitgehend unbekannt. 
Außer ein paar versprengten Freundinnen & Freunden, flüchtigen Zufallsbekanntschaften, dem Programmierer sowie dem Apparat, der alles weiß, aber keine Ahnung hat, kennt es keiner.

Diejenigen darunter, die kein Deutsch sprechen oder es gerade lernen wie PeeGee, verstehen wiederum nur Bruchstücke. Meine geniale Freundin Pee Gee lächelt. Auf Indisch. Sie wird noch öfters im Journal auftauchen, heute winkt sie nur. Sie ist nur halb so alt wie ich und weiß fast alles. Ich dagegen weiß fast nichts. Sie freut sich auf den Herbst, der nun da ist. Scheut das grelle Licht des Sommers.

Das erste Mal ist es immer am schönsten.

Was kann Text, was Bilder nicht können –
Wie groß ist die Widerstandsfähigkeit von Text im Netz –
Braucht Text im Netz Zwischenüberschriften –

Über diese und andere Dinge habe ich mich neulich nachts mit dem Pärchen G und S unterhalten. Ich kannte die beiden nicht. Und habe mich sofort in der Beiden So-Sein verliebt.

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Ein Prinzip dieses Journals ist es, dass der Journalist (= treuer Anhänger und Verfechter der Idee, dass ein würdiges Leben nur mit Journal möglich ist) am Vorabend seine Behausung verlässt und loszieht. Auf Recherche geht, sich auf die Suche nach dem verlorenen Donnerstag begibt, sich über das bloße Dasein erhebt und von der Nacht entrücken und erheben lässt, um das Erfahrene noch in der selben Nacht ins Notizbuch zu kritzeln und es am Morgen, vor der sinnlos unleserlichen Schrift sitzend, niederzuschreiben.

First Movement: Erhebung und Niederschrift

Doch der Text, wie ich mir im Gespräch mit dem Pärchen selbst versicherte, dürfe hier im Netz nicht einfach nur Text sein. Gedanken alleine taugten nichts. Meinungen schon gar nicht. Jeder, der eine Meinung habe und diese äußere, habe unrecht. Die Praxis zähle. Der Gedanke, der sofort in die Blutbahn gehe. Der Impuls, der den Berg sogleich versetze. Der Schritt, der im Hier und Jetzt gegangen werde. Deshalb müsse der Text: Pille sein, Projektil, Schrittmacher. Wenn auch nie Schirrmacher.

Oder falsch. 

Müsse Sprungbrett sein. Hinführen zu Terminen, Aktionen, Aufführungen, Veranstaltungen. Zu Büchern, zu anderen Texten. Zu Seiten, zu anderen Menschen. Andersdenkenden, Gleichgesinnten.

Irgendwo gibt es immer noch ein Sprungbrett, das besser ist.

Nun die vorletzte Zigarette rauchen und bei jedem Zug eine Schweigeminute für jeden und jede einlegen, die alleine im deutschsprachigen Kulturbetrieb samt Feuilleton in den vergangenen sieben Jahren der Nikotinsucht mutmaßlich zum Opfer fielen.

Nun das Auto verkaufen, verschenken, verschrotten. Und eine weitere Schweigeminute einlegen, für jene Seelen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die einst dem Automobilverkehr zum Opfer fielen: Brinkmann, Fauser, Sebald, Link.

Nun in die Luft springen. Im Yogasitz auf dem Boden aufkommen. Und dann die dritte Schweigeminute einlegen; für all die Namenlosen, die dahinstarben, ohne je eine bleibende Zeile geschrieben, ein Lachsbrötchen verzehrt, mit einem Segelschiffchen gespielt zu haben.

Second Movement: Der Tod ist nur eine Zwischenüberschrift

Mir selbst ging es auch schon mal schlechter. Migräne, kein Geld. Notizbücher randvoll mit Berechnungen über Aussichten auf eine bessere Zukunft, die sich als falsch erweisen sollten.

 Und hatte, ein Leben lang, Narzisst der ich war und Postnarzisst, der ich wohl oder übel noch bin, eine gottverdammte Angst vor dem Tod.

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Aber diese ist weg. Mit anderen Worten: Sie ist nicht mehr da. Die Angst ist dahin. 

Das habe ich keinem Geringeren als Sokrates zu verdanken, der gerade einmal rund siebzig Generationen vor uns existierte, seitdem vermutlich tot ist, es sich zuvor aber nicht nehmen ließ, von der Nichtigkeit des Todes zu sprechen.

Der brutal banale und erstaunlich gewinnbringende Gedanke von Sokrates, den ich eigentlich längst kannte und der davon handelt, dass der Mensch mit dem Tod nichts zu tun habe – er hat in einem einzigen Moment all mein Dasein verändert.

Die ebenfalls bereits gestorbene Edith Flusser hat sich, als sie über siebzig war, ganz ähnlich geäußert. Der Normalzustand, sagte sie, sei nicht, wie manche meinten, das Leben; sondern der Tod. Das Nichtsein. Doch wer die Zeit vor der eigenen Geburt nicht fürchte, müsse auch die Zeit nach dem eigenen Tod nicht fürchten. Es sei das gleiche. Es nehme sich nichts.

In die allgegenwärtige Nichtexistenz also ragt das Leben hinein, deines und meines, für kurze Zeit. Nicht mehr, nicht weniger. Daraus müsste sich mehr machen lassen als aus Beton oder Beten.

Vor wenigen Monaten, es war etwa zu der Zeit, als die reizende Lu-Lu begann, mich aus einer Laune distanzierter Zuneigung Monsieur Farkas zu nennen, ist nun dieser altbekannte und auch mir vertraute Gedanke vom Normalzustand der Nichtexistenz in mir erneut aufgestiegen, hat sich dann aber überraschend wie eine Tablette aufgelöst und muss seitdem nicht mehr gedacht werden, sondern wirkt einfach.

Third Movement: Mein oder dein neues Leben

Keins von beiden.
Und vor allem: kein neues.

Niemand kann sich neu erfinden. Den Nullpunkt, von dem einer schon lange träumen mag, es gibt ihn nicht. Man kann und muss höchstens das alte Ich gelegentlich in die Wüste schicken.

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Zwei der Gründer des Elektronik-Labels Raster Noton, Carsten Nicolai und Olaf Bender, erzählten zum Beispiel neulich in der Galerie Santa Lucia anlässlich des zwanzigjährigen Label-Jubiläums, dass sie sich am Anfang von allem freimachen wollten. Und sich so radikal von Einflüssen verabschiedeten, dass sie schließlich bei einem schlichten Sinuston angelangt waren.

Vielleicht müsste dementsprechend eine neue Literatur mit nichts als einem Tintenstrahl beginnen.

Oder eine Liebesgeschichte mit einem elektrischen Schlag.

Jedes Ich eine Luftblase auf Facebook, dem Meer, in dem wir schwimmen. Jede Luftblase ein neuer kleiner Ich-Roman.

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Brauner Zucker oder weißer –
Bin ich ein Schwarzer in einer weißen oder ein Weißer in einer schwarzen Welt –
Der Morgen grau, gris, grey –

Ich bin ein Sammler von Anfängen. I’m a collector of beginnings.

Und ein Journal ist wie ein Haus, in dem für vieles Platz ist.

Sogar für meinen Großvater, den Gesangsmeister, der fast auf den Tag genau vor einhundertfünf Jahren auf die Welt kam. Und der mit stolzen 92 Jahren, zum ersten Mal in seinem Leben in einer Art Undergroundbar auftrat (die wiederum längst Geschichte ist).

Es dauerte bestimmt zwanzig Minuten, bis mein Großvater die Treppen hochgestiegen war, gestützt von seiner Frau (die sich anschließend an die Bar begab und ein Bier zum Mitnehmen bestellte). Dann schnaubte er, setzte sich; und stieß mit carusoartigem Gelächer den Spruch hervor: »Ich bin nicht mehr der Alte!«

Nor am I.

Sincerely yours,

M. FARKAS

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Hinweise in eigener Sache:

Dieser Journaleintrag wird in Kürze durch einen neuen ersetzt.
Und verschwindet dann für immer.
Empfehlungen & Durchsagen werden regelmäßig aktualisiert.

Bei der Recherche für dieses Journal kommt ein Pinkbook zum Einsatz.
Feedback und Nachrichten gerne an: hello(at)monsieurfarkas.net

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Empfehlungen & Durchsagen

>>> BERLIN

> Einer der interessanten neuen Läden der Stadt: Jonny Knüppel, eine Favela der Utopien und Lebensentwürfe, am Schleusenufer in Kreuzberg, ist vorübergehend geschlossen. Wann und wie es weitergeht, wird hier gemeldet.

> Christian Jankowski: Die Legende des Künstlers und andere Baustellen, u.a. mit einer fernöstlich koproduzierten Doku-Soap über das Leben Martin Kippenbergers, Haus am Lützowplatz. Noch bis 16.11.
>>> ANDERE RICHTUNGEN

> Was dich nicht umbringt, macht dich stärker: Thomas Melle, Die Welt im Rücken. Genauso krasser wie – vor allem für literaturbetriebserfahrene Leserinnen & Leser – unterhaltsamer Bericht über einen manisch-depressiven Schriftsteller, der erst einmal seine Bibliothek verkauft, damit es weitergehen kann mit dem Leben und dem Schreiben.

> Schöner wird’s nicht: Christan Kracht, Die Toten. Ein so blankgeputzer, polierter, um nicht zu sagen: glänzender Text, dass man sich drin spiegeln könnte – wenn’s vor lauter Ambition und Streben nach dem perfekten Buch nicht so totlangweilig wäre. Literaturkritiker Denis Scheck ist vor laufender Kamera brav in die Knie gegangen im Angesicht des mythenumrankten Autors und sagenumwoben verschmitzten Bartträgers. Doch das Lesezeichen vergilbt bereits auf S. 63.

> Ohne aktuellen Anlass, nicht gesucht und gefunden: Ernst Bloch im Gespräch mit Iring Fetscher über den Geist der Utopie.  Beeindruckend, good old Bloch zum ersten Mal sprechen zu hören; beim Denken zuzusehen: Utopie ist kein Hirngespinst (wie Helmut Schmidt einst polterte) – sondern gehört zum Wesen von Mensch und Welt.

> Das Beste wie immer zum Schluss. Je suis, tu es Kiwanuka. Schwarzweiß ist das neue Bunt.

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